Samstag, 31. Juli 2010

Eine Tür schließt sich. Eine andere öffnet sich.

Dies wird der letzte Eintrag auf meinem Blog sein. Mein Jahr ist zu Ende. Ich bin wieder in Deutschland, wieder zu Hause.

Ich habe die WM in Argentinien überlebt, ich habe mich verabschiedet, im Projekt von den Kindern und meinen Kollegen, von meinen argentinischen Freunden, von anderen deutschen Freiwilligen und von dem faszinierenden Land, das ich ein Jahr kennen lernen durfte. Ich hab Argentinien schätzen gelernt, ich bin nach wie vor erschrocken über die große Ungleichheit und Ungerechtigkeit, ich habe von den Menschen Gelassenheit gelernt, ich habe viel geteilt und werde eben so viel mitnehmen.

Mein Lebensweg wird mich sicherlich noch einmal zurück in dieses Land, was jetzt ein zweites Zuhause ist, führen.
Und ganz sicher beeinflussen die Erlebnisse aus Argentinien mein Denken, mein Handeln, auch in der Zukunft.
Den Einsatz für eine gerechtere Welt, ich will ihn nicht als Floskel stehen lassen, sondern mich aktiv dafür einsetzen. Ich möchte in eine Partei eintreten, Aufklärungsarbeit leisten, neue Freiwillige auf dem Weg in ihr Jahr begleiten, bewusst konsumieren und weiter schreiben.
Ende August ziehe ich nach Nancy, um dort Politikwissenschaften zu studieren. Ich hoffe, dass mich dieses Studium viel lernen lässt, was ich nutzen kann, um auch beruflich mit Themen wie GlobalerGerechtigkeit und Menschenrechten arbeiten zu können.

Ein bisschen Idealismus kann ja nie schaden, meiner Meinung nach haben wir alle davon zu wenig.

Ich danke allen Menschen, die meinen Blog verfolgt haben und mich somit während meines Jahres begleitet haben.

Euch alles Gute!

Laura

Dienstag, 29. Juni 2010

Begegnungen verschiedener Art

Der letzte Sonntag war für mich ein Tag voller Begegnungen der verschiedensten Art.
Nachdem wir mit einer großen Gruppe von Freiwilligen die beiden Spiele Deutschland - England und Argentinien – Mexiko geguckt hatten, waren Lisa, Laura und ich wieder auf dem Heimweg. Als wir an Retiro, dem großen Bahnhof von Buenos Aires, mit dem Bus ankamen um von dort die einstündige Busfahrt nach Varela anzutreten, merkte ich, dass ich die Tüte mit den Kleidungsstücken, die ich zuvor gekauft hatte, im Bus liegen gelassen hatte.
Ich lief also zu einem Bus der selben Linie und ließ mir die Nummer der Busgesellschaft geben. Der Mann am Telefon riet mir, auf meinen Bus an Retiro zu warten. Da ich die Fahrkarte noch hatte, konnte ich die Busnummer ablesen und musste nun eben auf genau diesen Wagen warten. Es dauerte zwei Stunden, bis er wieder kam, da er eine Stunde nach Flores braucht und dann wieder eine Stunde zurück. Ich sprang auf den Wagen und fragte den Fahrer nach meiner Tüte. Ja, er hatte sie gefunden – wie toll! – aber an der Kontrolle in Flores abgelegt. Das bedeutete also nach den zwei Stunden des Wartens eine Stunde nach Flores zu fahren, die Tüte im Büro abzuholen, eine Stunde zurück nach Retiro zu fahren, und dann noch eine Stunde nach Hause. Trotzdem war ich dankbar und froh, denn ich war davon ausgegangen, dass jemand die Tüte mitgenommen hatte.
Schließlich stand ich um 11 Uhr abends wieder an der Bushaltestelle an Retiro, einer der gefährlichsten Orte in Buenos Aires. Da die Villa (Armenviertel) direkt hinter den vier großen Bahnhöfen liegt, kommen die Kinder und Jugendliche von dort zu den Bushaltestellen, um zu betteln oder auch zu klauen. Häufig stehen sie unter Drogen, was das Ganze nach verschlimmert. Man kennt den Anblick der vielen Menschen, die am Bahnhof unter ein paar dreckigen Decken schlafen, und doch erschreckt es einen in gewissen Situationen aufs Neue und gerade nach 9 Uhr abends, wenn nicht mehr viele Leute in Schlangen auf Busse warten, ist es ein Ort, an dem man nicht alleine sein möchte.

In den letzten Wochen habe ich dort zwei Situationen erlebt, die mich erschreckt haben. Einmal lief ich um etwa 4 Uhr nachmittags auf das Fahrkartenhäuschen zu, den Blick auf mein Portmonnaie geheftet, und als ich den Blick hob, stand ein Mädchen in meinem Alter mit erhobenem Messer vor mir. Ich zuckte vor Schreck heftig zusammen und drehte abrupt um, woraufhin sie zu Lachen anfing und mir nachlief in die Schlange der Boleteria. „Ay Flaca, Boluda“ (Beleidigungen), schrie sie und lachte die ganze Zeit weiter. Sie war sicher nicht nüchtern und ich war total durcheinander und immer noch etwas unter Schock.
In der Schlange für den Bus angekommen, hörte sie nicht auf, mich anzuschreien, so dass ein junger Mann weiter vorne in der Schlange, also weiter weg von ihr, mich zu ihm und mich aus ihrem Blickfeld holte. Dafür war ich ihm sehr dankbar.

Ein paar Wochen später war ich wieder nachmittags dort und lief über den kleinen Platz mit roter Asche auf die Boleteria zu, als mir drei Männer entgegen kamen. Eigentlich gilt die Regel, nicht über solche Plätze laufen zu dürfen, sondern immer außen herum auf dem Bürgersteig. Das mache ich auch normalerweise immer, dieses eine Mal dachte ich, dass es ungefährlich sei, so lange es noch hell ist. Für diese Naivität wurde ich dann auch prompt bestraft. Die drei Männer, die verdreckt waren und nach Alkohol stanken, kreisten mich ein und fragten nach Monedas (Geldmünzen). Da ich dafür meine Geldbörse hätte rausholen müssen und gerade Geld gezogen hatte, sagte ich nein, ich hätte keine. „Klar hast du Geld“, sagten sie und wurden lauter. „Ich brauche sie zum Busfahren“, sagte ich und meine Stimme klang fast schon flehend. Sie hörten nicht auf, zu fordern und kamen mir immer näher, so dass ich flüchtete. Ich drehte mich um und rannte so schnell ich konnte auf den Bürgersteig, woher ich kam, der nur ein paar Meter entfernt lag. Es war alles voller Menschen, aber niemand rief etwas oder kam mir irgendwie anders zu Hilfe, obwohl es viele gesehen hatten.
Sie folgten mir nur kurz, dann ließen sie von mir ab. Ich musste aber trotzdem wieder in diese Richtung, weil ich ja nach Hause fahren musste. So lief ich zügigen Schrittes auf der Straße zur Boleteria, dann zur Schlange, meine Beine zitterten. Der Mann vor mir in der Schlange sagte mir, dass er gesehen habe, dass die Typen mich ganz schön bedrängt hätten. „Toll“, dachte ich, „warum hat er dann nichts gemacht, nicht gerufen, nichts gesagt?“.
Als endlich der Bus kam, war ich erleichtert, aber die ganze Busfahrt immer noch aufgewühlt.
Dabei war ja überhaupt nichts passiert. Mir wurde nichts weggenommen, ich wurde nicht verletzt. Trotzdem ist diese Angst, die ich in solchen Momenten verspüre, ein schlimmes Gefühl. Und auch das Gefühl, das ich an solchen Orten habe, ohne, dass etwas passiert, ist unangenehm. Dieses Gefühl der Unsicherheit.
Das Ganze ist ja komplex. Man kann diese Menschen, die dort betteln und klauen und bedrohen nicht einfach als „die Bösen“ abstempeln, sondern sie haben ihre Geschichte und ihre Lebensumstände, die dazu führen, dass sie nichts mehr zu verlieren haben.
Wenn du nichts hast, hast du auch nichts zu verlieren.

Als ich schließlich am Sonntag im Bus saß und der Bus nur etwa 10 Meter um die Ecke fuhr, sah ich vom Busfenster aus 3 Jugendlichen mit Decken um die Schultern herumlaufen, einer von ihnen hatte ein etwa 50 cm – großes Messer in der Hand. Es war wirklich riesig und es durchfuhr mich, obwohl ich sicher im Bus saß. Gerade noch hatte ich ein paar Meter davon entfernt auf den Bus gewartet.
Da ich mein Handy zu Hause vergessen hatte und meine Mitbewohnerin Laura informieren wollte, dass es mir gut ging, fragte ich im Bus einen gut gekleideten Mann mittleren Alters, der zuvor mit seinem Handy telefoniert hatte, ob ich sein Handy vielleicht für einen Anruf benutzen dürfe, da ich meins vergessen hätte und meiner Freundin sagen wollte, wo ich war. Er schaute mich nur ganz komisch an, lachte und sagte „No“, nichts weiter. Ich war wie vor den Kopf gestoßen und fragte noch einmal, weil ich dachte, er würde vielleicht einen Witz machen. Er wiederholte nur das „No“, kein anderes Wort fügte er hinzu, und ich setzte mich wieder auf meinen Platz. Solch eine Behandlung bin ich hier nicht gewohnt, normalerweise sind die meisten Menschen sehr hilfsbereit und zuvorkommend.
Es machte mich traurig, dass gegenseitige Hilfe nicht selbstverständlich ist, und dass es Menschen gibt, die andere so von oben herab behandeln.
Ingesamt habe ich an diesem Abend eine ganze Palette verschiedener Emotionen durchlebt: von positiver Überraschung, über Nervösität, Unruhe, Schock zu Demütigung und Enttäuschung.

Der letzte Streich – das Endseminar

Die Monate nach dem Zwischenseminar in Misiones im Januar sind gerast und plötzlich stand schon das Endseminar vor der Tür. Der Ort des Geschehens sah dieses Mal anders aus: Statt Palmen, Wasserfällen und tropischer Schwüle warteten in Baradero Pampa, Schweinställe und winterliche Temperaturen auf uns. Ein Trost dabei: Die vielen Mandarinen-, Orangen- und Pampelmusenbäume auf dem Gelände. Im Hogar German Frers, in dem zwei von uns Voluntären mit Kindern und auf dem Gelände arbeiten, verbrachten wir als große Gruppe von über 40 Voluntären das letzte Seminar zusammen. Wir wurden sehr gut bekocht, das Programm war sehr interessant, nur das Wasser leider die ersten beiden Tage eiskalt, da der Gasmann nicht gekommen war. Halb so schlimm. Themen wie globale Gerechtigkeit, Abschied aus Argentinien und erste Schritte in Deutschland boten Anregungen zu Diskussionen, zum Austausch, zum gegenseitigen Zuhören, Ermuntern, Trösten...
Manche der Voluntäre hatte ich das ganze Jahr seit dem Anfangsseminar nicht mehr gesehen und es war interessant, ihre Veränderungen zu sehen, ihre Erfahrungen zu hören, von ihren Plänen für die Zukunft zu erfahren.
Unser toller Koordinator Christoph wird Argentinien nach 2,5 Jahren Arbeit mit Freiwilligen mit uns verlassen und das bot Anlass für einen berauschenden Abschiedsabend inklusive Geschenkübergabe für ihn. Jeder Freiwillige hatte eine Seite gestaltet, auf der er unter dem Motto „Mein Jahr am Rio de la Plata“ bildlich oder schriftlich seine Erfahrungen festgehalten hatte. Das Ergebnis war farbenfroh und toll, ein wirklich gelungenes, persönliches Geschenk.
Der letzte Abend war auch insgesamt ein Erfolg: In einer kleinen Gruppe haben wir einen Clubtanz zu WMCA geplant, eine Zirkusnummer mit Leuten aus dem Publikum, die vorher nichts von ihrem Glück wussten (inklusive Bauchtanznummer der Betreuer) und ein Improvisationstheaterspiel, das sehr zur Erheiterung der Menge beitrug.
Nach dem kurzweiligen Programm wurde dann mit Glühwein und Früchtebowle zu argentinischer Cumbia und amerikanischer Musik abgetanzt. Gegen Morgen drangen dann auch deutsche Karnevalslieder an meine Ohren, als ich schon im Bett lag. Es gab schließlich auch eine Menge zu feiern: Christoph, unser Jahr, das fast zu Ende ist, Deutschlands Sieg über Ghana, Argentiniens Sieg über Griechenland...und das Leben im Allgemeinen.
Trotz durchgefeierter Nacht waren wir am nächsten Morgen alle um 11 Uhr am Start um zu evaluieren, Gruppenfotos zu machen, und eine kleine Abschiedsandacht draußen auf der Wiese zu halten.
Nachdem wir in den 5 Tagen sehr viel über Ungerechtigkeit auf der Welt gesprochen hatten, war diese letzte Andacht, in der Christophs Chef von der IERP (Iglesia Evangelica del Rio de la Plata) sich für unsere Arbeit in den Projekten bedankte und uns als „Licht der Welt“ bezeichnete, sehr schön und hoffnungsspendend. Auch wenn ich, gerade nach meinem Jahr hier, nicht weiß, wie ich genau zum Gottesgedanken stehe, so hat mir die Art dieser Andacht und die Art, in der Christoph manchmal von Gott und Jesus gesprochen hatte, gut gefallen.
Dann war das Seminar vorbei und wir fuhren wieder zwei Stunden zurück noch Buenos Aires, wo uns noch drei Wochen bleiben. Drei Wochen, die vom Abschied gezeichnet sind. Und von der Fußball-WM  Ob meine argentinischen Freunde und Arbeitskollegen nach dem kommenden Samstag noch mit mir reden, bleibt fragwürdig. Ich werde dann davon berichten!

Mein 3. Rundbrief

Meine Zeit in Argentinien neigt sich dem Ende und es wird Zeit für einen weiteren Rundbrief.
Dieser wird zum einen ein Rückblick auf die vergangenen 10 Monate sein, zum anderen möchte ich mich dem Thema Bildung in Argentinien widmen. Ich habe in den letzten Rundbriefen schon viel über Armut geschrieben, da ich sie jeden Tag sehe und mit den Menschen, die von ihr betroffen sind, jeden Tag verkehre. Leider hat Bildung viel mit eben dieser Armut zu tun.

Wenn man mich fragt, was mich dazu motiviert, in meinem Projekt zu arbeiten, so würde ich antworten: Ich habe die Hoffnung, dass durch die Vermittlung von Bildung, von Werten, Lebenssituationen überwindet werden können.
Für mich ist Bildung der einzige Schlüssel zu einer besseren Zukunft. Denn sie macht dich zum Einen frei und eigenständig, und öffnet dir zum Anderen die Tür zu einer Arbeitswelt, die dir als ungebildeter Mensch verschlossen bleibt. Vielleicht ist der erste Teil der wichtigere, der zweite jedoch lässt dich überleben.
Wie wir seit der Aufklärung alle wissen, bedeutet Bildung bzw. Verstand auch, Bestehendes zu hinterfragen. Ein Land, in dem die Menschen gebildet sind und dementsprechend eigenmündig, macht also auch bessere Politik. So wäre es auf jeden Fall nach meiner Logik. Meiner Meinung nach sollte Politik nicht von oben gemacht werden, sondern ein lebendiger Prozess sein, in den die Bevölkerung involviert ist. Menschen, die intelligent sind und gelernt haben, Geschehnisse zu analysieren und zu bewerten, können sich an der Politik ihres Landes aktiv beteiligen, in dem sie z.B. an Demonstrationen teilnehmen oder ein Gespräch mit einem zuständigen Politiker suchen. Diese Art politischen Engagements leistet die Nicht-Regierungsorganisation, für die ich hier arbeite. Zusammen mit den Kindern und Jugendlichen aus den Projekten haben wir z.B. im November gegen ein geplantes Gesetz, was die Herabsetzung des Alters der Strafmündigkeit vorsieht, demonstriert.
Da in den Projekten das vom Staat versprochene Geld für Essen und Gehälter oft fehlt oder nur teilweise ausbezahlt wird, treffen sich meine Kollegen häufig mit zuständigen Politikern, um mit ihnen die Situation zu diskutieren. Auch wenn diese Treffen oft erfolglos und deprimierend sind, so sind sie doch ein wichtiger Akt der Meinungsäußerung, ein Akt des Sich-Wehrens gegen staatliche Ausnutzung der Macht. Denn in solchen Fällen missbraucht der Staat ganz klar die Macht, die er über die Menschen hat. Nehme ich als Beispiel die Köchin in meinem Projekt, die sich selbst und ihre zwei Kinder mit 400 Peso (ca. 80 Euro) im Monat durchbringen muss, und selbst diese winzige Summe häufig ganz ausbleibt oder viel zu spät oder nur teilweise ankommt. Gute Tage im Projekt sind dann die, an denen es heißt: Das Geld ist da – endlich!
Zurück zur Bildung. Nur, wer gebildet ist, kann Diskussionen führen, hat so überhaupt nur die Chance, an sein Recht zu kommen.
Nur, wer gebildet ist, kann politisch mitmischen, sich Gehör verschaffen, eine wohl überlegte Entscheidung bei der Wahl treffen.
Manchmal macht es den Eindruck, die Politiker wollten die Bevölkerung dumm bleiben lassen, sie klein halten. Damit sie eben nicht protestieren, nicht ihre Rechte einfordern, nicht bemerken, was in der Politik alles falsch läuft.
Es ist eine gewagte Hypothese, die dennoch von vielen vertreten wird. Man kommt zum Beispiel darauf, wenn man sieht, wie schlecht das Schulsystem teilweise funktioniert.
Staatliche Schulen stehen hinter den Privaten Schulen weit zurück, was Qualität der Lehre, Anwesenheit der Lehrkräfte, Materialien u.s.w. betrifft. In den öffentlichen Schulen fällt ca. einmal pro Woche der Unterricht aus, was ich durch die Kinder in meinem Projekt erfahre. Meistens weil Lehrer fehlen oder streiken: Ihre Gehälter sind zu niedrig, um genug zu verdienen, müssen Lehrer so viele Unterrichtsstunden geben, dass sie kaum Zeit zum Vorbereiten haben, was sich wiederum negativ auf die Qualität des Unterrichts auswirkt. Auch Events wie die Fußballweltmeisterschaft, die im Moment läuft, sind ein Anlass, den ganzen Tag unterrichtsfrei zu geben, wenn Argentinien spielt. Statt das Spiel in der Schule gemeinsam zu gucken, vielleicht sogar ein Projekt anlässlich der WM zu machen, geben die Schulen den gesamten Tag frei. Wann sollen die Kinder eigentlich mal was lernen? Die Frage ist nicht nur wann, sondern auch wie. Ein überarbeiteter und schlecht vorbereiteter Lehrer kann kaum etwas vermitteln. Wenn ich mit meinen Jugendlichen Hausaufgaben mache, sehe ich, dass sie fast nur Texte abschreiben, von denen sie den Inhalt aber gar nicht verstehen. Ganz besonders schlimm ist das im Fach Englisch. Die Schüler können praktisch keinen Satz auf englisch bilden, haben aber einen Text zum 200. Geburtstag Argentiniens von der Tafel abgeschrieben und müssen, von ihm ausgehend, die Ereignisse der Revolution im Mai 1810 (ebenfalls auf englisch) in die richtige Reihenfolge bringen. Theoretisch ist diese Form von fächerübergreifendem Lernen eine gute Idee, leider ist sie aber völlig unrealistisch, weil die Mehrheit der Klasse nicht mal ein „My name is ....“ herausbringt. Wie dann einen geschichtlichen Text auf englisch verstehen? Wie dann diese Hausaufgaben machen? Die Eltern können auch nicht helfen, da zumindest die Eltern der Kinder aus der unteren Schicht der Gesellschaft, mit denen ich arbeite, noch schlechter englisch sprechen als ihre Kinder.
Mehr noch als der Fakt, dass die Jugendlichen eben kein Englisch können, nicht wissen, wo Peru oder Deutschland liegt, oder keinen Dreisatz hinkriegen, stört mich an der Art der Lehre, dass die Kinder zum Abschreiben, zum Ausmalen, zum Ankreuzen erzogen werden, nicht aber zum Ausprobieren, zum Hinterfragen, zum Diskutieren, zum Analysieren, zum Denken.

Teilweise kommt es zu Situationen, in denen Schülern die Rückkehr zur Schule unmöglich gemacht wird. So erzählte mir eine befreundete Voluntärin, ein Junge aus ihrem Projekt habe wegen auffälligen Verhaltens einen Schulverweis erhalten. Zurück zur Schule dürfe er erst, wenn er einen Psychologen konsultiert habe. Dieser Psychologe hat seine Praxis jedoch in Recoleta, dem nobelsten Stadtteil von Buenos Aires. Vom Zuhause des Jungen, eine Villa (Armutsviertel) im Südwesten von Buenos Aires, bis nach Recoleta fährt man ca. 2 bis 3 Stunden mit dem Bus. Eine Reise, die für die Mutter, die sich neben diesem Sohn noch um 6 weitere Kleinere kümmern muss, nicht zu leisten ist. Der Junge bleibt der Schule also fern.

Zum Glück gibt es neben diesen vielen traurigen Wahrheiten, was das Bildungssystem hier in Argentinien betrifft, auch einige positive Errungenschaften, die ich auch nicht unerwähnt lassen will. Seit ein paar Monaten gehen zwei meine Kolleginnen, die Köchin und die, die den Taller (Workshop) mit den Kleinen leitet, wieder zur Schule. Letztere macht mit über 40 und ihren 8 Kindern die Secundaria (so etwas wie Oberstufe) nach, die Köchin ist schon über 50. Beiden hat Lernen immer Spaß gemacht, sie mussten aber beide die Schule abbrechen, die eine wegen einer ungeplanten Schwangerschaft, die andere, weil sich ihre Mutter umgebracht hat und sie arbeiten gehen musste.
Montag bis Freitag von 13 bis 17 Uhr lernen die beiden jetzt neben Standardfächern wie Biologie, Englisch oder Geschichte auch z.B. die Organisation von Firmen. Ihre Klasse ist bunt gemischt, die Schüler sind zwischen 20 und 68 Jahre alt. Für ’s Lernen ist man nie zu alt.

Wie kann ich persönlich in meinem Jahr hier ein Stück zur persönlichen Weiterentwicklung der Jugendlichen in meinem Projekt beitragen? Sicherlich ein ehrgeiziger Anspruch, den ich aber schon irgendwie an mich selbst hatte bzw. habe. Dadurch, dass ich mir so einen Druck gemacht habe, etwas Tolles im Projekt anzubieten, habe ich mir den Anfang etwas schwer gemacht. Es wurde eigentlich neben der Mitarbeit in der Küche nicht viel von mir erwartet. Aber ich war doch nicht nur zum Zwiebeln schneiden und Mate-Trinken gekommen.

Mein erstes eigenes Projekt war dann der Adventskalender, den ich zusammen mit den Jugendlichen gebastelt habe. Dieser deutsche Brauch existiert in Argentinien nicht. Somit hatte ich also zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Ich erzählte vom deutschen Advent und Weihnachten und habe so ein wenig etwas von einer anderen Kultur vermittelt. Gleichzeitig machte ich den Jugendlichen einfach eine Freude, indem jeder eine Nummer von 1 bis 24 zugeteilt bekam und an diesem Tag im Dezember ein Geschenk in Form eines Fotos, auf dem derjenige auch drauf zu sehen war, und deutschen Süßigkeiten.

Etwa zeitgleich begann ich mit meinem Taller de Aerobic. Mit der Zeit machten wir zwar nicht mehr wirklich Übungen, die unbedingt aus dem Aerobic entstammen, aber wir dehnten und entspannten Muskeln, massierten uns gegenseitig und machten Atemübungen.

Mit ein paar Jungs übersetzte ich Songtexte von Eminem und wir machten ein bisschen Englischunterricht. Generell wissen die Jugendlichen, dass sie mit Hausaufgaben (besonders mit Englisch, mit Mathe eher weniger ;)) immer zu mir kommen können.

Zur Zeit mache ich mit der Gruppe ein Projekt zur Weltmeisterschaft. Wir haben einen riesigen Spielplan gebastelt, auf den wir die Flaggen aller teilnehmenden Länder, die wir vorher gemalt haben, aufklebten und sie dank Klebeband weiter wandern können, je nachdem wie weit die einzelnen Länder im Wettbewerb kommen. Über dem Plakat hängt die Weltkarte, auf der wir jedes Land gesucht und markiert haben, und nun in Gruppen von jedem Kontinent eins vorstellen werden.

Es waren keine großen Dinge also, die ich in meinem Jahr mit meiner Jugendgruppe vollbracht habe. Aber es war ein Lernprozess, in dem ich viel verstanden habe, und in dem ich auch selber Dinge vermittelt habe. Vielleicht sind es kleine Schritte auf dem Weg zu einer etwas geeinteren Welt. Aber ich glaube, dass unsere Welt genau diesen Austausch zwischen Kulturen braucht. Einen Austausch, der nicht nur auf diplomatischer Ebene stattfindet, sondern auch auf persönlicher.
Deswegen bin ich auch gegen die durchgeführte Kürzung der Gelder für das „Weltwärts“-Programm. Ich habe erlebt, dass beide Seiten nur profitieren.

Herzliche Grüße und bis bald,

eure Laura!

Mittwoch, 9. Juni 2010

Ein Donnerstag in Capital

"Geht es da nach Peru?", fragt mich Francisco, ein 13-jaehriger Junge aus meinem Projekt. Er deutet mit dem Finger auf eine U-Bahnstation, die "Peru" heisst. "Was fuer ein Ort ist denn das?" Ich verstecke mein Entsetzen und erklaere ihm, wo Peru liegt und dass man dahin leider nicht mit der U-Bahn fahren kann. Es ist Donnerstagnachmittag. Ein besonderer Donnerstagnachmittag, denn wir befinden uns nicht wie normalerweise im Jugendzentrum in Bosques Norte, sondern mitten in Capital, kurz vor der Plaza de Mayo. Ich erklaere Francisco, dass die Plaza de Mayo der wichtigste Platz und die Casa Rosada das wohl wichtigste Gebaeude, naemlich der Praesidentensitz, von Buenos Aires ist, seiner Stadt. "Nein", sagt er, seine Stadt sei Bosques Norte, sein Barrio eben. Es ist das erste Mal, dass er in Capital ist. Das Zentrum von Buenos Aires liegt etwa 1,5 Stunden mit dem Linienbus von Bosques entfernt.

Der Grund, warum wir an einem Donnerstag mit den Kindern herkommen ist der, dass jeden Donnerstag um 15 Uhr die Madres bzw. Abuelas der waehrend der Militaerdiktatur Verschwundenen ueber die Plaza laufen, mit Gedenktafeln und Spruchbaendern, um nicht vergessen zu machen, dass ihre Kinder bzw. Enkelkinder einfach verschwunden sind und dass sie teilweise immer noch ihre Enkelkinder suchen, die den Inhaftierten abgenommen wurden und von anderen adoptiert wurden. Viele dieser inzwischen Erwachsenen wissen nicht um ihre Vergangenheit, um ihre Identitaet. Die Chefin des argentinischen Medienmonopols Clarin steht im Moment oeffentlich unter Druck, da auch sie Kinder von "Desaparecidos" adoptiert hat und somit mit den Militaers kooperiert hat. Diese Affaere ist eine politisch zur Zeit hoechst brisante Angelegenheit!

Waehrend die Madres ihre Runden drehen, in ihren weissen Kopftuechern - ihr Zeichen! verliest eine weitere von ihnen ueber ein Mikro die Namen der verschwundenen Kinder der Anwesenden - 33.000 Namen kann sie schliesslich nicht vorlesen - und nach jedem Namen sagt die Menge laut: "Presente" (Anwesend). In den Koepfen ihrer Angehoerigen sind diese Menschen nicht vergessen. Damit auch der Rest der argentinischen Bevoelkerung nicht vergisst, was mit ihnen geschehen ist, protestieren die Madres jede Woche. Abschliessend liest die alte Frau noch zwei Gedichte von Verschwundenen vor, die an eine andere Welt glauben, ohne Hass und Verfolgung. Es ist sehr feierlich und bewegend, diesen Moment mitzuerleben, auch wenn man persoenlich nicht betroffen ist.

Ein historischer Moment also, nicht nur fuer Francisco, so ein Donnerstag in Capital.

Samstag, 29. Mai 2010

Un finde en Cordoba


Das letzte lange Wochenende haben wir genutzt, um Cordoba kennenzulernen: Die zweitgrößte Stadt Argentiniens, 10 Stunden im Reisebus westlich von Buenos Aires, Kolonialstil, viele Studenten, schöne Landschaft um die Stadt herum.
Nach Stadtrundfahrt und Besuch der "Human Bodies Exposition" am ersten Tag, sind wir am zweiten Tag in das kleine Dorf Alta Gracia gefahren, um dort das Haus zu besichtigen, in dem Che Guevara aufwuchs. Sehr interessant, durch viele Bilder und Texttafeln habe ich dort einiges über diese krasse Person gelernt, was mir vorher unbekannt war. Und es war natürlich cool, wirklich am "Ort des Geschehens" zu sein, dort, wo er viele Jahre seines Lebens verbracht hat.

Nach einem Mittagessen in Alta Gracia sind wir eine knappe Stunde wieder in die Stadt reingefahren und haben den Spätnachmittag auf einer ganz tollen Feria (Handwerkermarkt) verbracht, auf der viele junge Designer Klamotten verkauft haben, und sonst Schmuck, Trödel, Essen und viele andere schöne Sachen verkauft wurden.

Abends wurde der 200. Geburtstag Argentiniens in der Innenstadt mit Konzerten gefeiert. Wir waren aber eher in gemütlicher Stimmung und da es auch sehr kalt war, sind wir bald ins Hostel zurückgekehrt und haben es uns mit "Bridget Jones 2" im Fernsehzimmer gemütlich gemacht. Im Hostel haben wir natürlich auch wieder viele Leute aus der ganzen Welt kennengelernt. Mit einer Gruppe Schweizern konnte ich endlich nochmal französisch reden, wobei ich leider auch wieder gemerkt habe, wie viel ich vergessen habe.

Das Highlight unseres Trips war auf jeden Fall der dritte Tag, an dem wir eine Reittour in den Bergen von Cordoba mitgemacht haben. Nach drei Stunden Reiten über Stock und Stein, durch Flüsse und über Berge, gab es danach Asado - leckerstes Rindfleisch und Huhn, Salate und selbstgemachtes Brot, ein Genuss!

Abends hieß es dann wieder: Ciao Cordoba, Buenos Aires - wir kommen zurück! Und es ging in der Nacht auf Mittwoch wieder nach Hause.
Jetzt bin ich endlich mal hier in Argentinien geritten, das wollte ich unbedingt erleben. Zusammen mit dem 24. März war das mein zweiter Highlighttag meines Jahres hier. Dieses neigt sich langsam dem Ende zu. In 7 Wochen geht es wieder nach Alemania...
Bis bald und Vaaaamos Germany - nach dem Grand Prix jetzt die WM!!!!

Freitag, 7. Mai 2010

Hausbesuch

Letzten Mittwoch habe ich das erste Mal zusammen mit der Psychologin unseres Projekts Hausbesuche gemacht. Sie hatte das schon länger geplant, damit ich die Familien, die Häuser, die Realitäten der Kinder kennen lerne. Wirklich drin waren wir letztlich nur in einem Haus, bei drei weiteren standen wir nur an der Tür und redeten dort mit den Müttern. Wenn die Väter zu Häuse sind, ist es oft schwierig, mit den Müttern ins Gespräch zu kommen. Sie haben Hemmungen, können einen nicht hereinlassen, weil das den Ehemann stört, und sind generell irgendwie nervös.
Eine Familie jedoch stach aus dem Raster. Sie haben ein Haus, das wirklich wohnlich ist, nur 5 Kinder und wir haben uns sowohl mit Mutter, als auch mit dem Vater nett bei Mate am Tisch unterhalten. Dass dabei der Fernseher lief, ist Standard. Der wird hier bei argentinischen Familien eigentlich nie ausgeschaltet. Diese Familie inmitten all der kaputten Familien mit alkoholabhängigen Vätern, gewalttätigen Müttern, Kindern, die Drogen nehmen, die Schule abbrechen, sich früh schwängern lassen, war wie eine kleine Insel der heilen Welt. Die großen Kinder gehen zur Schule, der Junge arbeitet nebenbei. Das Baby wurde liebevoll von Mutter UND Vater umsorgt, der Vater unterhält sich aufrichtig über Probleme Argentiniens...
Das gibt es also auch.
Die Familie eines Jungen meiner Jugendgruppe, die wir auch besucht haben, wohnt mit ihren 10 Kindern in 3 kleinen zusammengeschusterten Hütten, der Hof ist voller Müll und auch dort blieben wir am Tor stehen. Der Vater würdigte uns kaum eines Blickes, die Mütter,sichtlich nervös, lässt sich kaum auf ein Gespräch ein. Die Psychologin verabredet einen anderen Termin. Wenn die Kinder in der Schule sind und der Mann nicht zu Hause, dann kann man besser reden.

Die Mutter von Diana (Name geändert),15 Jahre, die schwanger ist,lässt sich an der Hautür (Mann zu Hause - also auch da kein Einlass)über den Vater des Kindes aus, der schon mit seiner neuen Freundin zusammenlebt. Sie sagt, der Teufel soll ihn holen und dass er seinen Sohn nie zu Gesicht kriegen wird. Man kann ihren Ärger verstehen, sie wollte ein anderes Leben für ihre Tochter haben. Das sagt sie auch. Ihre ältere Tochter schuftet den ganzen Tag, um ihren Sohn zu versorgen. Das wollte sie für Diana nicht. Auch ihre Jugend wird im September mit der Geburt ihres Sohnes vorbei sein. "Wenigstens ein Junge", sagt die Mutter. Ein Mädchen hätte sie direkt in einen Karton gesteckt und ihn der anderen Oma rübergeworfen.