Dienstag, 29. Juni 2010

Mein 3. Rundbrief

Meine Zeit in Argentinien neigt sich dem Ende und es wird Zeit für einen weiteren Rundbrief.
Dieser wird zum einen ein Rückblick auf die vergangenen 10 Monate sein, zum anderen möchte ich mich dem Thema Bildung in Argentinien widmen. Ich habe in den letzten Rundbriefen schon viel über Armut geschrieben, da ich sie jeden Tag sehe und mit den Menschen, die von ihr betroffen sind, jeden Tag verkehre. Leider hat Bildung viel mit eben dieser Armut zu tun.

Wenn man mich fragt, was mich dazu motiviert, in meinem Projekt zu arbeiten, so würde ich antworten: Ich habe die Hoffnung, dass durch die Vermittlung von Bildung, von Werten, Lebenssituationen überwindet werden können.
Für mich ist Bildung der einzige Schlüssel zu einer besseren Zukunft. Denn sie macht dich zum Einen frei und eigenständig, und öffnet dir zum Anderen die Tür zu einer Arbeitswelt, die dir als ungebildeter Mensch verschlossen bleibt. Vielleicht ist der erste Teil der wichtigere, der zweite jedoch lässt dich überleben.
Wie wir seit der Aufklärung alle wissen, bedeutet Bildung bzw. Verstand auch, Bestehendes zu hinterfragen. Ein Land, in dem die Menschen gebildet sind und dementsprechend eigenmündig, macht also auch bessere Politik. So wäre es auf jeden Fall nach meiner Logik. Meiner Meinung nach sollte Politik nicht von oben gemacht werden, sondern ein lebendiger Prozess sein, in den die Bevölkerung involviert ist. Menschen, die intelligent sind und gelernt haben, Geschehnisse zu analysieren und zu bewerten, können sich an der Politik ihres Landes aktiv beteiligen, in dem sie z.B. an Demonstrationen teilnehmen oder ein Gespräch mit einem zuständigen Politiker suchen. Diese Art politischen Engagements leistet die Nicht-Regierungsorganisation, für die ich hier arbeite. Zusammen mit den Kindern und Jugendlichen aus den Projekten haben wir z.B. im November gegen ein geplantes Gesetz, was die Herabsetzung des Alters der Strafmündigkeit vorsieht, demonstriert.
Da in den Projekten das vom Staat versprochene Geld für Essen und Gehälter oft fehlt oder nur teilweise ausbezahlt wird, treffen sich meine Kollegen häufig mit zuständigen Politikern, um mit ihnen die Situation zu diskutieren. Auch wenn diese Treffen oft erfolglos und deprimierend sind, so sind sie doch ein wichtiger Akt der Meinungsäußerung, ein Akt des Sich-Wehrens gegen staatliche Ausnutzung der Macht. Denn in solchen Fällen missbraucht der Staat ganz klar die Macht, die er über die Menschen hat. Nehme ich als Beispiel die Köchin in meinem Projekt, die sich selbst und ihre zwei Kinder mit 400 Peso (ca. 80 Euro) im Monat durchbringen muss, und selbst diese winzige Summe häufig ganz ausbleibt oder viel zu spät oder nur teilweise ankommt. Gute Tage im Projekt sind dann die, an denen es heißt: Das Geld ist da – endlich!
Zurück zur Bildung. Nur, wer gebildet ist, kann Diskussionen führen, hat so überhaupt nur die Chance, an sein Recht zu kommen.
Nur, wer gebildet ist, kann politisch mitmischen, sich Gehör verschaffen, eine wohl überlegte Entscheidung bei der Wahl treffen.
Manchmal macht es den Eindruck, die Politiker wollten die Bevölkerung dumm bleiben lassen, sie klein halten. Damit sie eben nicht protestieren, nicht ihre Rechte einfordern, nicht bemerken, was in der Politik alles falsch läuft.
Es ist eine gewagte Hypothese, die dennoch von vielen vertreten wird. Man kommt zum Beispiel darauf, wenn man sieht, wie schlecht das Schulsystem teilweise funktioniert.
Staatliche Schulen stehen hinter den Privaten Schulen weit zurück, was Qualität der Lehre, Anwesenheit der Lehrkräfte, Materialien u.s.w. betrifft. In den öffentlichen Schulen fällt ca. einmal pro Woche der Unterricht aus, was ich durch die Kinder in meinem Projekt erfahre. Meistens weil Lehrer fehlen oder streiken: Ihre Gehälter sind zu niedrig, um genug zu verdienen, müssen Lehrer so viele Unterrichtsstunden geben, dass sie kaum Zeit zum Vorbereiten haben, was sich wiederum negativ auf die Qualität des Unterrichts auswirkt. Auch Events wie die Fußballweltmeisterschaft, die im Moment läuft, sind ein Anlass, den ganzen Tag unterrichtsfrei zu geben, wenn Argentinien spielt. Statt das Spiel in der Schule gemeinsam zu gucken, vielleicht sogar ein Projekt anlässlich der WM zu machen, geben die Schulen den gesamten Tag frei. Wann sollen die Kinder eigentlich mal was lernen? Die Frage ist nicht nur wann, sondern auch wie. Ein überarbeiteter und schlecht vorbereiteter Lehrer kann kaum etwas vermitteln. Wenn ich mit meinen Jugendlichen Hausaufgaben mache, sehe ich, dass sie fast nur Texte abschreiben, von denen sie den Inhalt aber gar nicht verstehen. Ganz besonders schlimm ist das im Fach Englisch. Die Schüler können praktisch keinen Satz auf englisch bilden, haben aber einen Text zum 200. Geburtstag Argentiniens von der Tafel abgeschrieben und müssen, von ihm ausgehend, die Ereignisse der Revolution im Mai 1810 (ebenfalls auf englisch) in die richtige Reihenfolge bringen. Theoretisch ist diese Form von fächerübergreifendem Lernen eine gute Idee, leider ist sie aber völlig unrealistisch, weil die Mehrheit der Klasse nicht mal ein „My name is ....“ herausbringt. Wie dann einen geschichtlichen Text auf englisch verstehen? Wie dann diese Hausaufgaben machen? Die Eltern können auch nicht helfen, da zumindest die Eltern der Kinder aus der unteren Schicht der Gesellschaft, mit denen ich arbeite, noch schlechter englisch sprechen als ihre Kinder.
Mehr noch als der Fakt, dass die Jugendlichen eben kein Englisch können, nicht wissen, wo Peru oder Deutschland liegt, oder keinen Dreisatz hinkriegen, stört mich an der Art der Lehre, dass die Kinder zum Abschreiben, zum Ausmalen, zum Ankreuzen erzogen werden, nicht aber zum Ausprobieren, zum Hinterfragen, zum Diskutieren, zum Analysieren, zum Denken.

Teilweise kommt es zu Situationen, in denen Schülern die Rückkehr zur Schule unmöglich gemacht wird. So erzählte mir eine befreundete Voluntärin, ein Junge aus ihrem Projekt habe wegen auffälligen Verhaltens einen Schulverweis erhalten. Zurück zur Schule dürfe er erst, wenn er einen Psychologen konsultiert habe. Dieser Psychologe hat seine Praxis jedoch in Recoleta, dem nobelsten Stadtteil von Buenos Aires. Vom Zuhause des Jungen, eine Villa (Armutsviertel) im Südwesten von Buenos Aires, bis nach Recoleta fährt man ca. 2 bis 3 Stunden mit dem Bus. Eine Reise, die für die Mutter, die sich neben diesem Sohn noch um 6 weitere Kleinere kümmern muss, nicht zu leisten ist. Der Junge bleibt der Schule also fern.

Zum Glück gibt es neben diesen vielen traurigen Wahrheiten, was das Bildungssystem hier in Argentinien betrifft, auch einige positive Errungenschaften, die ich auch nicht unerwähnt lassen will. Seit ein paar Monaten gehen zwei meine Kolleginnen, die Köchin und die, die den Taller (Workshop) mit den Kleinen leitet, wieder zur Schule. Letztere macht mit über 40 und ihren 8 Kindern die Secundaria (so etwas wie Oberstufe) nach, die Köchin ist schon über 50. Beiden hat Lernen immer Spaß gemacht, sie mussten aber beide die Schule abbrechen, die eine wegen einer ungeplanten Schwangerschaft, die andere, weil sich ihre Mutter umgebracht hat und sie arbeiten gehen musste.
Montag bis Freitag von 13 bis 17 Uhr lernen die beiden jetzt neben Standardfächern wie Biologie, Englisch oder Geschichte auch z.B. die Organisation von Firmen. Ihre Klasse ist bunt gemischt, die Schüler sind zwischen 20 und 68 Jahre alt. Für ’s Lernen ist man nie zu alt.

Wie kann ich persönlich in meinem Jahr hier ein Stück zur persönlichen Weiterentwicklung der Jugendlichen in meinem Projekt beitragen? Sicherlich ein ehrgeiziger Anspruch, den ich aber schon irgendwie an mich selbst hatte bzw. habe. Dadurch, dass ich mir so einen Druck gemacht habe, etwas Tolles im Projekt anzubieten, habe ich mir den Anfang etwas schwer gemacht. Es wurde eigentlich neben der Mitarbeit in der Küche nicht viel von mir erwartet. Aber ich war doch nicht nur zum Zwiebeln schneiden und Mate-Trinken gekommen.

Mein erstes eigenes Projekt war dann der Adventskalender, den ich zusammen mit den Jugendlichen gebastelt habe. Dieser deutsche Brauch existiert in Argentinien nicht. Somit hatte ich also zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Ich erzählte vom deutschen Advent und Weihnachten und habe so ein wenig etwas von einer anderen Kultur vermittelt. Gleichzeitig machte ich den Jugendlichen einfach eine Freude, indem jeder eine Nummer von 1 bis 24 zugeteilt bekam und an diesem Tag im Dezember ein Geschenk in Form eines Fotos, auf dem derjenige auch drauf zu sehen war, und deutschen Süßigkeiten.

Etwa zeitgleich begann ich mit meinem Taller de Aerobic. Mit der Zeit machten wir zwar nicht mehr wirklich Übungen, die unbedingt aus dem Aerobic entstammen, aber wir dehnten und entspannten Muskeln, massierten uns gegenseitig und machten Atemübungen.

Mit ein paar Jungs übersetzte ich Songtexte von Eminem und wir machten ein bisschen Englischunterricht. Generell wissen die Jugendlichen, dass sie mit Hausaufgaben (besonders mit Englisch, mit Mathe eher weniger ;)) immer zu mir kommen können.

Zur Zeit mache ich mit der Gruppe ein Projekt zur Weltmeisterschaft. Wir haben einen riesigen Spielplan gebastelt, auf den wir die Flaggen aller teilnehmenden Länder, die wir vorher gemalt haben, aufklebten und sie dank Klebeband weiter wandern können, je nachdem wie weit die einzelnen Länder im Wettbewerb kommen. Über dem Plakat hängt die Weltkarte, auf der wir jedes Land gesucht und markiert haben, und nun in Gruppen von jedem Kontinent eins vorstellen werden.

Es waren keine großen Dinge also, die ich in meinem Jahr mit meiner Jugendgruppe vollbracht habe. Aber es war ein Lernprozess, in dem ich viel verstanden habe, und in dem ich auch selber Dinge vermittelt habe. Vielleicht sind es kleine Schritte auf dem Weg zu einer etwas geeinteren Welt. Aber ich glaube, dass unsere Welt genau diesen Austausch zwischen Kulturen braucht. Einen Austausch, der nicht nur auf diplomatischer Ebene stattfindet, sondern auch auf persönlicher.
Deswegen bin ich auch gegen die durchgeführte Kürzung der Gelder für das „Weltwärts“-Programm. Ich habe erlebt, dass beide Seiten nur profitieren.

Herzliche Grüße und bis bald,

eure Laura!

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