Mittwoch, 23. Dezember 2009

Sittenverfall - Deutsche feiern orientalische Weihnacht in Argentinien

Klingt nach Bild, stimmt aber wirklich.
Auf dem Speiseplan für Heiligabend steht Melone mit Parmaschinken, Griechischer Salat, geschmortes Lamm mit Paprikacouscous und Himbeerschichtspeise. Das wird ein Fest!

Bei so viel leckerem Essen wird die Trauer über die Abwesenheit der Familie vielleicht ein bisschen unterdrückt. Weihnachten bei schwülen 30 Grad hatte ich auf jeden Fall noch nie. Ganz ehrlich sehne ich mich ein bisschen nach dem kalten Deutschland. Denn Weihnachten gehört für mich zu Kälte. Diese Hitze hier hat da nichts verloren.

Was habe ich die letzten Tage so getrieben? Da ich 3 Tage aufarbeiten musste, damit ich mir für Besuch ein bisschen frei nehmen kann, habe ich in der Casa Abierta, dem Haupthaus des Centro Angelelli, gearbeitet. Am Montag habe ich die Kinder der Frauen, die sich wegen häuslicher Gewalt beraten lassen, gehütet. Es war die Hölle, weil die Rotzbengel schlecht erzogen waren und die ganze Zeit weggerannt sind, so dass ich wie eine Blöde sie die ganze Zeit suchen musste. Ich alleine mit 7 kleinen Kindern, das war eine echte Herausforderung. Die Hitze hat es nicht besser gemacht.
Dienstag Asado mit den Leuten von Caritas, dann ging es daran, einen Weihnachtsbaum aus Stoff zu basteln, für die Weihnachtsfeier heute, und dann die Geschenke für die Frauen, die zum Gewalt-Taller kommen, und ihre Kinder einzupacken.
Nach 7 Stunden wurde ich quasi rausgeschmissen, damit ich mich entspanne, um heute Morgen nach Capital zu fahren (2 Stunden eine Fahrt!)und Rechnungen abzugeben und dafür Schecks entgegegn zu nehmen.
Nach dieser Odyssee hatte ich dann heute Nachmittag endlich ein bisschen Zeit, um mein Wichtelgeschenk zu besorgen. Wir haben ja unter uns 4 Mädels gewichtelt. Morgen ist es dann so weit. Ich schwitze immer noch, dabei ist es schon halb 12 nachts.
Ich hasse es. Ich bin einfach kein Hitzemensch. Vor allem kein Freund der feuchten Hitze hier.

Hauptsache, unsere orientalische Weihnacht, die wir Deutschen morgen in Argentinien feiern, gelingt!

Also meine Lieben. Ich wünsche euch allen von ganzem Herzen wunderschöne Weihnachten. Ich wünsche euch, dass ihr es mit den Menschen verbringen könnt, die euch wichtig sind, dass ihr es in Frieden verbringt und mit froher Hoffnung auf das kommende Jahr.
Was mich betrifft, ich feiere dieses Jahr zwar das erste Mal nicht mit meiner Familie, auch nicht mit meinen Freunden von zu Hause. Aber ich feiere mit neuen Freunden. Mit Lisa, Anna, Laura, Hendrik und Gabriel. Menschen, die mich in meinem Leben hier von Anfang an begleitet haben, und die hier also wie meine Familie sind.
Also freue ich mich auf unser Fest morgen, auch wenn ich meine Familie und Freunde vermissen werde.

Feliz Navidad!

Freitag, 18. Dezember 2009

Ein Tag im Freibad. Fazit: Ein kleiner Sonnenbrand, ein kleiner Hund und viele kleine Kinder

Heute ein paar Worte aus dem Locutorio (Internetcafe) von nebenan (daher auch der Mangel an Umlauten, scharfem s etc.).

Der Tag war echt schoen! Wir waren mit allen vier Zentren im Freibad, haben geschwommen, Ball gespielt, gegrillt und gegessen, in der Sonne gelegen (die meiste Zeit aber doch eher im Schatten) und das Jahresende gebuehrend gefeiert.

Einigen Kindern habe ich ein paar Schwimmzuege beigebracht, denn nur etwa die Haelfte der Kinder kann schwimmen. Wir hatten auf jeden Fall einen Heidenspass, haben herumgeplanscht und das gute Wetter genossen.

Dann hat Anna 3 kleine Babyhunde entdeckt und sich kurzerhand entschlossen, den kleinsten und schwaechsten (Lisa behauptet auch: den haesslichsten) mit nach Hause zu nehmen, um ihn aufzupaeppeln. Gesagt, getan, momentan muesste er sich schon ein Haus weiter im ersten Stock, Wohnung 2 befinden...ich bin gespannt, ob sie ihn flofrei und stubenrein kriegt. Die arme Lisa ist auf jeden Fall ein bisschen besorgt..

Ab Montag arbeite ich noch 3 Tage in anderen Projekten, um die Ferien, die ich mir mit meinem Besuch nehme, zu kompensieren. Aber ich freue mich darauf, bin gespannt, welche neuen Einblicke mir diese Arbeit geben wird. Und danach habe ich einen Monat frei :)
Ich werde mit Pia und einer Freundin nach Mendoza, dann nach Santiago de Chile, Valparaiso, San Felipe und dann nach La Serena fahren; von dort aus dann in den Norden Argentiniens nach Salta und Juyjuy und dann zum Seminar nach Misiones. Bin schon sehr gespannt!

Ahora me voy, muss noch in unsere Stammbar und auf die Ferien anstossen!

Ich denke an euch, die ihr in Deutschland friert, waehrend ich mit einem klein wenig Sonnenbrand meinen Cocktail schluerfe. Celebra la vida! Das sage ich dazu!

Hasta pronto, amigos!

Eure sehr gut gelaunte Laura!

Donnerstag, 17. Dezember 2009

Mein Projekt




Stress und Ferien

So groß angekündigt und dann noch nicht mal was berichtet. Tz tz. Lo siento!
Wie ihr auf den Fotos sehen könnt, war Mar del Plata toll! Und das Wetter auch. Die Wohnung war super zentral, wir haben viel gesehen, Zeit am Strand verbracht, haben gekocht, waren im Casino (wo Lisa mit 2 Peso Einsatz am Automaten 150 Pesos gewonnen hat!), waren essen und auch einmal feiern. Ein rumdum gelungener Kurztrip!

Kaum zurück hat mich aber dann schon wieder der Stress eingeholt. Naja, selbstgemacht, irgendwie. Da ich mich am Wochenende entschlossen habe, mich doch in Nancy für den Studiengang Sciences Po zu bewerben, muss ich jetzt eine sehr aufwändige Bewerbung auf mich nehmen. Da ich die letzten zehn Tage aber jeden Tag etwas gemacht habe, bin ich schon fast fertig und so viel war es dann doch nicht.

Dementsprechend waren meine letzten Wochen sehr voll und da wir kein Internet mehr in der Wohnung haben, hat sich das ganze noch ein wenig mehr kompliziert. So wohne ich jetzt so halb bei Lisa und Anna, die mich netterweise ihr Internet mitbenutzen lassen.

Heute war außerdem mein letzter Tag im Projekt vor den Ferien. Morgen gehen alle Zentren zusammen ins Freibad, um das Jahresende zu feiern.

Als ich mich heute von allen verabschiedet habe, ist mir wieder einmal aufgefallen, wie sehr ich mich mit allen aus dem Projekt, sowohl Jugendliche, als auch Mitarbeiter angefreundet habe, wie selbstverständlich ich mittlerweile Teil des Teams bin und wie komisch es sein wird, sich zu verabschieden mit dem Wissen, vielleicht nie mehr wieder zu kommen. Wenn ich groß bin und einmal viel Geld verdienen sollte, weiß ich auf jeden Fall, wohin ich es spenden werde. Mein Projekt ist einfach toll!
Heute habe ich den Jugendlichen dieses Fadenspiel beigebracht, bei dem man zu zweit sich immer gegenseitig den Faden von den Händen nimmt. Schwer zu erklären, ich denke, viele von euch kennen das. Kam auf jeden Fall super an und sie haben es die ganze Zeit gespielt.

Damit ihr euch ein noch besseres Bild von meinem Projekt machen könnt, lade ich im nächsten blog ein paar Fotos hoch.

Wünsche euch allen eine schöne Weihnachtszeit! Ich schwitze hier bei 30 Grad..
Eure Laura!

Dienstag, 15. Dezember 2009

Freitag, 4. Dezember 2009

Auf ans Meer!

Es ist soweit: Nach über 4 Monaten in Argentinien, fahre ich morgen zum ersten Mal ans Meer! So richtig freuen kann ich mich erst jetzt, weil ich vorher so eingespannt im Projekt war, an so viele andere Dinge denken musste...
Morgen geht es also nach Mar del Plata, ca. 380 km von hier entfernt. Merle, Fenja, eine Freundin der beiden, Christoph, Lisa und ich haben uns eine Ferienwohnung von Bekannten von Fenjas Gastfamilie gemietet und werden dort das lange Wochenende bis Dienstag verbringen. Obwohl die Wettervorhersage nicht die beste ist und eigentlich nicht dem Dezember hier entspricht (nur 22 Grad), freue ich mich auf ein bisschen Luftveränderung. Mal wieder hier herauskommen, den Kopf frei kriegen, Meer, Strand, eine Runde Entspannen...das wird sicher toll!
Allerdings habe ich natürlich noch nicht gepackt, so kennt man mich, und morgen um 8 geht es schon los.
Also wünsche ich euch ein schönes Nikolauswochenende, meins ist dieses Jahr so gar nicht von Weihnachtsstimmung geprägt.
Schreibt doch mal einen Kommentar oder schickt mir eine Mail!
Saludos, Laura

Un dia raro

Gestern war ein dia raro, ein seltsamer Tag. Es war der Geburtstag von Samanta, einem Mädchen aus dem Zentrum. Außerdem der Hochzeitstag meiner Chefin. Und es war der erste Todestag eines Jungen aus dem Centro. Er starb vor einem Tag, indem er nass vom Pool einen alten Kühlschrank öffnete und damit eine Explosion auslöste. Nach fast einem Monat im Krankenhaus erlag er schließlich seinen Verletzungen. Er war ein sehr enger Freund vieler meiner Jungs im Zentrum.
Die Stimmung gestern war gedrückt. Ob sie es wollten oder nicht, wurden alle wieder an diesen Tag vor einem Jahr erinnert, an dem sie die Nachricht erhielten. Ich kannte ihn nicht, trotzdem musste ich auch die ganze Zeit daran denken, wie sinnlos und traurig es ist, wenn ein 13-jähriger gesunder Junge stirbt.
Nach dem Abendessen kam der befreundete Pfarrer, um mit denjenigen, die bleiben wollten, eine kleine Trauerfeier abzuhalten. Er sprach ein paar Worte, las aus der Bibel, teilte Kerzen aus und wir teilten zusammen diesen Moment, der auch mich auf der anderen Seite sehr traurig machte, weil ich die Gesichter meiner Jungs sah, in denen der Schmerz über den Verlust ihres Freundes geschrieben stand, andererseits aber auch dankbar darüber, dass ich bisher noch nie einen Menschen, der mir wirklich nahe stand, verloren habe.

Mittwoch, 2. Dezember 2009

Ein Gespenst geht um in Argentinien...

Gestern las ich in unserem Boletin Voluntariado (der Zeitschrift für uns Freiwillige) diesen Artikel eines Pfarrers der Iglesia Evangeliga del Rio de la Plata, Arturo Blatezky, der für die Menschenrechtsorganisation MEDH arbeitet. Während unseres Einführungsseminars habe ich ihn bereits kennen gelernt und wurde Zeugin seiner unglaublichen Allgemeinbildung und seines Engagement für die Ärmsten der Armen hier in Argentinien. Es lohnt sich wirklich, diesen Artikel zu lesen, denn er erzählt von nichts anderem als der Wirklichkeit hier - eine teilweise so grausame Wirklichkeit, dass es mir manchmal sehr schwer fällt, meine positive Einstellung angesichts all dem, was ich hier täglich erfahre, zu bewahren.

EIN GESPENST GEHT UM IN ARGENTINIEN - DAS GESPENST DER UNSICHERHEIT...

Macri – De Narvaez & Co.: „Die unpolitischen Unternehmer-Politiker“
[…] ¿Wie sieht die „Schaffung von Sicherheit für die anständigen Bürger“ durch Bürgermeister Macri in der Stadt Buenos Aires aus? Das beste Beispiel ist ohne Zweifel die Schaffung der UCEP-Brigade, der „Einheit für die Kontrolle der Allgemeinen Öffentlichkeit“.
Konkret besteht diese Massnahme darin, dass eine –geheime- Gruppe von zivilen Stadtangestellten eingestellt wurden, die nachts durch die ärmeren und verborgenen Gegenden der Stadt Buenos Aires in Privatwagen patrouilliert um Bettler und Homeless, die zu Hunderten unter den Brücken der Autobahnen, Vordächer o.ä. zu übernachten versuchen, mittels mehr oder weniger eindeutiger, leichterer oder schwerer Gewalt vertreiben. Diese Aktionen der UCEP-Brigade gingen so weit, dass selbst der Oberkommissar der für die Stadt zuständige Staatspolizei sich von ihnen distanzierte und abstritt, etwas damit zu tun zu haben. Aber das ändert nichts daran, dass das Macri-Dekret besteht und die UCEP in ihrer Handlungsfreiheit sogar ausdrücklich ausgeweitet wurde. Ihr offizielles Büro und Handlungsbasis ist […] im Zentrum von Buenos Aires und ihre Aktionen werden öfters mit LKW´s der privaten Müllversorgung der Stadt begleitet und unterstützt. Ebenso wie von privaten PKW´s in denen jeweils mehrere große, athletisch gebaute Männer mitfahren, die sich alle durch schwarze Uniformen auszeichnen.

Wir begleiten und zeigen diese gewalttätigen Übergriffe von staatlich-angestellten illegalen Schlägerbanden seit einiger Zeit gemeinsam mit der katholischen Gemeinde der Klaretianer von Constitución an, dem wichtigsten Endbahnhof der Züge, die aus Patagonien und dem Süden einlaufen.
Ein guter Freund, Pfarrer Jorge Alonso hat vor Gericht folgendes ausgesagt:
“Es war etwa um 12 Uhr nachts als ich von der Strasse –von unterhalb der Autobahn her- Schreie hörte. Es war ein mir sehr gut bekannter Mann, der seit einiger Zeit neben der Mauer unserer Gemeinde übernachtet und manchmal kommt um Essen, Mate-Tee, Zucker o.ä. zu verlangen. Ich schaute aus dem Fenster und bemerkte etwa 18 bis 20 junge Männer, alle in schwarzer Uniform, die auf den Mann zuredeten. Dann stiegen sie in ihre Autos und fuhren weg. Am nächsten Tag kam der Mann zu mir und erzählte, sie hätten ihn bedroht, er solle machen dass er dort wegkäme. Der (66. jährige) Mann war sehr verängstigt und sprach nur davon, dass sie ihm damit gedroht hatten, nächstes Mal würden sie ihn wegprügeln.
Es ist genauso, wie es unser Kardinal Bergoglio immer wieder sagt: Die Menschen sind für die Regierung dieser Stadt überflüssig, man kann sie behandeln wie Wegwerfmüll. […]


Die wahren Opfer der “Unsicherheit der kapitalistischen Gesellschaft”

Carlitos – 14 Jahre

Wenige Dinge haben mich in meinem Leben so bewegt wie die Beerdigung des 14. jährigen Carlitos.
Carlitos lebte mit seiner Familia wie die anderen 45 bis 50 Tausend Menschen im Elendsviertel “Villa Itatí” in âusserster Armut. Er sammelte zusammen mit seiner Schwester und seinen Eltern Papier, Pappe, Flaschen und was sonst im Müll noch wiederverwertbar ist. Gleichzeitig besuchte er die nahe gelegene Abendschule.
Ein Leben wie das der anderen Jungen seines Alters in “Villa Itatí”. Auch sein Tod war ein Tod wie viele andere alltägliche Tode in “Villa Itatí” und den anderen Elendsvierteln des Armengürtels um Buenos Aires.

An einem heissen Herbstsonntag im April spielte Carlitos barfuss und nur mit Shorts bekleidet Fussball auf dem freien Platz zwischen den beiden Spuren der Autobahn die “Villa Itatí” von “Villa Azul” trennt.
In der Halbzeit gab ein Zuschauer Carlitos Geld um im nahen Kiosk für die Spieler eine Cola zu kaufen.
Als Carlitos vor dem Kiosk stand hielt ein Auto plötzlich an, ein Mann stieg aus und schoss ihm ohne ein Wort zu sagen aus nächster Nähe 2 Kugeln in den Hinterkopf.
Als die Zuschauer des Spieles die kurze Strecke gelaufen kamen war Carlitos schon tot: Der Mann gab sich als Polizist außer Dienst zu erkennen und entschuldigte sich damit dass “er meinte den Jungen vor kurzem bei einem Überfall gesehen zu haben, aber er könne sich irren, da die ja alle gleich aussehen...”
Als die entsetzten und wütenden Nachbarn und Zuschauer begannen auf den Mann einzuschlagen und sein Auto umzustürzen versuchten, war die Polizei gleich zur Stelle, da ja der Krater, den “Villa Itatí” bildet bei Tag und Nacht von Streifenwagen umgeben ist. Die Polizei jagte die Menschen mit Gewalt auseinander.
Als nach längerer Zeit ein Wagen des zuständigen Kommissariats eintraf und damit begann, den Toten zu untersuchen, bemerkten die Familie und Nachbarn, wie unter dem Toten ein Revolver hervorgeholt wurde, den Carlitos nie –halbnackt, wie er war- bei sich gehabt haben könnte. Es war wieder einmal die unter uns alltägliche übliche Art und Weise, das Opfer zu beschuldigen um den Täter zu entlasten.
Der Polizeioffizier wurde schon am nächsten Tag entlassen ohne weiter von der Justiz verfolgt zu werden.

Für mich war die Beisetzung von Carlitos nicht nur wegen des unbeschreiblichen und ungesühnten Mordes einzigartig: Da seine Familie in einer kleinen Holzhütte lebt, in der unmöglich auch nur ein kleiner Sarg Platz findet (Carlitos war für sein Alter klein gewachsen), fand seine Aufbahrung und Trauerfeier am Rande der Autobahn statt, so dass unentwegt Fernbusse, Laster und Autos an uns vorbeirasten. Auch die Pferdchen von etwa 50 Wägelchen, die mit ihren jeweiligen Papiersammlerfamilien dabeistanden, sorgten nicht gerade für Stille und Besinnlichkeit: Es wäre sicher auch eine Zumutung gewesen, von diesen Menschen angesichts des ebenso grauenhaften wie zynischen und maßlos aufreizenden Mordes an einem kleinen Jungen, der einer der ihren war und den sie aufwachsen sahen, so etwas wie Stille und Besinnlichkeit zu erwarten.
Der Zug zum Friedhof wurde für mich zum unvergesslichen Erlebnis: Ich saß mit den Angehörigen auf einem der mindestens 50 wie Schilfboote inmitten des Grosstadtverkehrs unsicher schaukelnden und holpernden Wägelchen mit ihren kleinen Pferdchen, im Talar die riesigen Busse und LKW´s wie Ozeanriesen beachtend, die an uns vorbeirauschten: Die Welt aus einer ganz anderen Perspektive, ganz von unten, ganz von den Kleinen aus, ganz aus der Unsicherheit derer heraus, die man straflos sowohl erschießen wie anrempeln und umstürzen kann.

Von der Beerdigung selbst erinnere ich nur den Anblick der wohl über 50 Wagen und Pferdchen, die alle in den Friedhof hinein- und so nahe ans Grab fuhren, dass sie im Gewimmel etwas sehen und hören konnten.
Und fast an jedem Wagen handgemalte Plakate, die sicherlich die eigentliche und entscheidende Ansprache und Predigt waren. Auf dem rechten Foto sieht man eines dieser Plakate mit dem ebenso berechtigten wie verzweifelten und zur Sprachlosigkeit zwingenden Aufschrei: “SCHLUSS MIT DEM MORD AN DEN UNSCHULDIGEN!”


Diego-16 J., Elias-15 J., Miguel-17 J., Manuel-17 J.


Es ist leicht berichtet aber fast nicht zu glauben, was in der Nacht vom 20 Oktober 2004 in der zentralen und wichtigsten Polizeistation in der Innenstadt von Quilmes geschehen ist.
17 Minderjährige warteten –z.T. seit Monaten- darauf, von der Jugendjustiz in ein Entziehungsheim für Rauschgiftabhängige überführt zu werden. Die Prozedur ist ebenfalls so einfach wie unglaublich: Da es sich allesamt um arme Minderjährige handelte, deren Familie keine Entziehungskur bezahlen können, müssen sich die Minderjährigen selbst dem Richter stellen und sich selbst als Gesetzesbrecher anklagen, da sie nur so auf Staatskosten eingeliefert werden können. Da Rauschgiftkonsum aber eine strafbare Handlung ist, wurden sie augenblicklich als Delinquenten inhaftiert, und da die beiden 4-Bettzellen überfüllt waren, waren in der Nacht des Grauens in einer Zelle 10 und in der anderen 7 Kinder eingepfercht.
Aber das war nichts im Vergleich zu dem, was geschehen sollte

Den Nachmittag über hatte einer der Jungen, der 16 jährige Diego verzweifelt verlangt seine Eltern besuchen zu dürfen: Er hatte von diesen einen Brief bekommen in dem stand, sein kleiner Bruder sei schwer krank. Unverständlicherweise hatte irgendjemand innerhalb der Polizeistation den Text –vor seiner Übergabe an Diego- dahingehend verändert, dass nun zu lesen war, sein kleiner Bruder sei gestorben.
Diego, der in der 10-Zelle inhaftiert war, begann sich wie wild zu gebärden, so dass er mehrmals von den wachhabenden Polizisten mit dem Gummistock geschlagen wurde. Schließlich entstand ein allgemeiner Aufruhr und die Polizisten kamen in die Zelle und schlugen erbarmungslos auf alle 10 Jungen ein, die weiterhin laut um Hilfe riefen in der Hoffnung, durch das einzige Fenster, das zur Strasse führt, von Menschen gehört zu werden. Der Aufruhr entflammte auch in der anderen Zelle, so dass auch die anderen 7 Jugendlichen rücksichtslos von der Polize geschlagen wurde.
Als alles nichts half, zündeten die Jungens ein Teil eines Schaumgummikissens an, in der Hoffnung, die Fußgänger würden den entstandenen Rauch sehen und die Polizei würde die Zelle öffnen müssen.

Was hingegen geschah ist unvorstellbar: Allen Anzeichen und Untersuchungen nach schüttete jemand von außerhalb Benzin oder Kerosin unter die Blechtüre der 10.Zeller, so dass sich das Feuer in dem Raum, in dem 10 Menschen zusammengepfercht waren, explosionsartig ausbreitete. 4 der Jungen starben in den nächsten Stunden, nachdem sie noch einmal –trotz schwerster Brandwunden- zusammengeknüppelt wurden. Manche von ihnen wurden stundenlang in Streifenwagen herumgefahren, bis sie –alle 10 weit zerstreut voneinander, damit ihre Angehörigen sich nicht treffen und gemeinsam etwas unternehmen konnten- in Hospitäler eingewiesen wurden.


Ich hab Diego und seine Familie gut gekannt, so dass die Mutter mich bat die Trauerfeier und Beerdigung zu leiten. Ich hab´deshalb Diego aus nächster Nähe lange gesehen: Sein Sarg wurde wieder –wie der von Carlitos- mitten in einem Gang des Elendsviertels „Villa Itatí“ aufgebahrt, da auch die Hütte der Familie Maldonado viel zu klein für einen Sarg plus Trauergemeinde war. Ich kann bezeugen, dass die Kinder nicht vom Rauch des Schaumstoffkissens erstickt sondern verbrannt sind. Diegos Gesicht und Hände waren noch im Tod leuchtend rot, ohne jegliche Hautreste, denn die waren alle verbrannt; Diego hatte auch nicht den geringsten Russfleck an den Händen oder im Gesicht: Die –um Jahre verspätete Untersuchung- stellte fest, dass alle 4 Jungen den inneren Brandwunden der Atemwege erlegen sind und keiner Rauchvergiftung, wie es die ersten Befunde der eigenen Polizei bekannt gegeben haben.
Nach 5 Jahren warten die Angehörigen immer noch auf die Gerechtigkeit der Menschen: Bisher wurde kein einziger Polizist wegen dieser 4 Morde verurteilt.

Ich werde nie die letzte Szene vergessen, die ich an Diegos Grab erlebt habe.
Als alle Menschen gegangen waren, blieb ich auf einige Entfernung stehen und schaute zurück.
Da sah ich, dass Diegos Schwester vor dem Grab kniete. Ich ging zu ihr zurück um sie zu umarmen, als ich bemerkte, dass sie eine kleine Zigarette, aus Zeitungspapier und Hasch gedreht, entzündete und in die Erde des frischen Grabhügels steckte. Sie sagte: „Vielleicht hilft es ihm, ein wenig Ruhe zu finden“.

Was wir von der Ökumenischen Menschenrechtsbewegung meinen:

Schon vor vielen Jahren, im April 1988 haben wir folgendes bekannt gegeben:
“Wir vom MEDH sehen mit größter Sorge den Vormarsch von Kriterien einer angeblichen „Sicherheit“, die weder die sozialen Interessen verteidigen und noch viel weniger die Nöte der Minderjährigen, sondern die einzig und beharrlich das Weiterbestehen einer repressiven Mentalität beweisen, die zur Genüge bewiesen hat, dass sie absolut schädlich für alle Menschen ist, nur nicht für diejenigen, die sie ausüben und sich dadurch bereichern. Man muss deshalb das gesamte Sozial- und Rechtssystem, insofern es mit Kindern und Jugendlichen zu tun hat, von Grund auf verändern. Wir werden nie dadurch eine größere „Sicherheit“ erreichen, dass wir eine noch stärkere und ausgeweitete Repression der Kinder errichten, mit stärkeren Gittern und größeren Vorhängeschlössern: ¿Wie sollten wir auch unsere armen Jugendlichen davor schützen, gegen das Gesetz zu handeln, während die Folterer und Mörder der Diktatur frei und straflos unter uns umherstolzieren? Wir sehen mit Entsetzen, dass es viele Richter gibt, die unsere Kinder dem „Gewahrsam“ jener professioneller kriminellen Schergen der Diktatur übergeben wollen, die weiter ihr Unwesen treiben“.

Arturo Blatezky
Mai 2009

Sonntag, 29. November 2009

Viel passiert




Fast ohne es zu merken, ist der November schon fast vorbei - und es ist der erste Advent. Für mich dieses Jahr der erste ohne Adventskranz. Eigentlich wollten wir uns einen basteln, aber in dem ganzen Trubel haben wir das doch irgendwie nicht geschafft.

Es ist viel passiert, so viel, dass ich kaum Zeit und Ruhe hatte, noch mal einen blog zu schreiben.

Wo fange ich an? Lisa hatte am 8. November Geburtstag. Wir haben ihren 20. gebührend mit den Quilmesleuten in der Boliche gefeiert und am nächsten Morgen ein Riesen-Geburtstagsfrühstück mit Torte, Kuchen, Pfannkuchen, Obstsalat, Haferbrei und selbstgebackenem Brot veranstaltet.

Außerdem haben Lisa und ich endlich eine tolle kleine Tangoschule hier in Varela gefunden, in der wir jetzt Samstags (wenn wir denn mal Zeit haben) unser Bestes geben, diesen Teil der Kultur Argentiniens zu lernen. Es macht mir total Spaß, ich liebe die Musik, aber es ist auch sehr schwer. Besonders weil die anderen im Kurs alle schon mindestens ein Jahr Vorsprung haben und wir ja absolute Anfänger sind.

Mein Aerobictaller im Projekt läuft - trotz der mangelnden Qualität des CD-Players und demzufolge der Musikunterbrechungen. Ich habe emsig kleine Wasserflaschen als Gewichte gesammelt, die verschwinden zwar auch eine nach der anderen, aber immerhin macht es den Jugendlichen Spaß und sie fragen fast jeden Tag, ob wir wieder Aerobic machen. Gibt es aber nur Freitags und jeden zweiten Dienstag. Das reicht mir auch, denn es ist ziemlich anstrengend, ein bisschen Ordnung in den Haufen zu bringen.

Nicht ganz so viel Begeisterung zeigen die Kids für das Basteln des Adventskalenders. Kann ich auch verstehen, es ist eben immer das Gleiche: 24 Kästchen, wird irgendwann monoton. Trotzdem ist er jetzt fast fertig, es fehlen nur noch 10 Deckel, die muss ich morgen ganz fix noch basteln. Meistens finden sich doch noch ein paar Mädels, die noch gerne mitmachen.
Jeder Jugendliche kriegt dann eine Nummer von 1 bis 24 und dementsprechend an einem Tag im Dezember ein kleines Geschenk. Ich werde Fotos entwickeln, auf denen der jeweilige auch zu sehen ist, und Süßigkeiten hineintun.

Letzten Mittwoch waren wir mit allen Projekten der Fundacion Angelelli auf einer Demonstration. Eine Marcha contra la baja de edad de imputabilidad. Das heißt, wir haben gegen ein neues Gesetz der Regierung protestiert, dass das Alter der Strafmündigkeit auf 14 Jahre herabsetzt. Mit Plakaten und Murga ( das heißt lauter Trommelmusik und Tanz) sind wir auf dem Platz vor dem Congreso, vor dem Parlament, marschiert. War eine super Erfahrung, so hautnah bei einer Protestaktion von unten dabei zu sein.
Zum Abschluss des Tages waren Lisa und ich endlich im berühmten Café Tortoni und haben mit Eiskaffee, Kakao und Apfelkuchen unseren freien Nachmittag gefeiert. Sehr stilvoll mit schwarzgekleideten Kellnern und Kaffee aus Metallkännchen.

In Varela wurde dann weitergeschlemmt, nachdem wir kuzerhand beschlossen, doch zu faul zum Kochen zu sein. Auf ging's zu Pizza libre, wo ich aber nach dem Apfelkuchen nur klägliche 4 Stücke Pizza verdrücken konnte.

Den Donnerstag danach habe ich das erste Mal Besuch bekommen :) Eine Freundin aus Aachen, Laura, kam mich für 2 Tage besuchen, weil sie als Flugbegleiterin mit der Lufthansa hier Aufenthalt hatte. Donnerstagabend waren wir mit der Crew schön essen, inklusive Champagner auf der Dachterrasse des Restaurants. Dann sind wir beide noch zum Tandemtreffen zwischen Deutschen und Argentiniern in eine Bar in Palermo gefahren, wo sie meine Freunde, die anderen Freiwilligen, kennengelernt hat. Nach einer luxuriösen Nacht im Hilton am Puerto Madero mit tollen Blick auf den Hafen (leider nicht von unserem Zimmer aus,stand dann Freitag noch ein bisschen Sightseeing auf dem Programm, was leider im wahrsten Sinne des Wortes etwas ins Wasser gefallen ist. Es hat geschüttet und war kühl. Tapfer sind wir mit unseren kurzen Hosen trotzdem wenigstens ganz kurz durch den berühmten Friedhof von Recoleta gelaufen, nachdem wir erstmal schön in einem Diner um die Ecke Pfannkuchen gefrühstückt hatten. Danach entschieden wir uns dann für das Museo Nacional de Bellas Artes, ein durchaus sehenswertes Museum ebenfalls im Stadtteil Recoleta, das die europäischen Klassiker von Monet, Van Gogh, Klee und Gauguin, sowie argentinische Kunst ausstellt.
Nach einem Abstecher in die Florida, die größte Einkaufsstraße hier, und einem Café, ging es dann für Laura wieder ins Hotel, sich auf den Abflug vorbereiten, und für mich nach Hause.
Den Abend habe ich dann mit Spätzle und Gulasch bei Mateo und Christoph in Quilmes verbracht.

Inzwischen ist also auch schon der 4.Monat um. Die Zeit geht doch schneller vorbei, als ich am Anfang dachte. Heute Abend gehen wir auf ein Manu Chao Konzert.
Also verbleibe ich hier mit Grüßen an euch nach Hause ins schöne Deutschland und wünsche euch einen schönen ersten Advent und eine schöne Vorweihnachtszeit. Ich schwitze hier bei 30 Grad und ertrinke zwischendurch fast im heftigsten Regen.

Eure Laura

Mittwoch, 11. November 2009

Mein erster Rundbrief

So, ich habe mich dazu durchgerungen, es euch doch anzutun und ihn hier rein zu kopieren. Für alle, die das alles eh schon wissen: Einfach runterscrowlen!

Liebe UnterstützerInnen, liebe Familie und Freunde!


Der ältere Herr, der neben mir im Flugzeug saß, reagierte entsetzt. „Florencio Varela?!“ fragte er auf meine Aussage hin, dass ich dort nun ein Jahr leben und arbeiten würde. Er ist nicht der einzige geblieben, der so reagiert hat. Mittlerweile lebe ich schon fast 3 Monate in Florencio Varela, einem Barrio im Süden von Buenos Aires, das immer mehr wie ein Zuhause für mich wird.

Seit dem 26. Juli 2009 mache ich einen Freiwilligen Friedensdienst bzw. ein Freiwilliges Soziales Jahr in Argentinien, Buenos Aires, Florencio Varela. Entsendet durch die Evangelische Kirche im Rheinland und gefördert durch das weltwärts – Programm, arbeite ich in einem Kinder-und Jugendzentrum in einem Armenviertel von Buenos Aires.
Damit ihr euch über meine Arbeit und meine Erfahrungen mit dem Land, den Menschen, der Kultur informieren könnt, schreibe ich während meines Jahres hier Rundbriefe, dieser ist der erste.

Nach dem Abitur wollte ich nicht sofort an die Uni, sondern etwas ganz anderes machen: ein fremdes Land kennen lernen, mich sozial engagieren, Menschen aus einem anderen kulturellen Kontext treffen, mit ihnen ins Gespräch kommen, mich austauschen, mich ausprobieren, lernen.
Schon nach den ersten drei Monaten ist viel davon passiert. Ich habe eine für mich völlig neue Welt betreten, bin Teil von ihr geworden. Ich habe Menschen kennen gelernt, die eine völlig andere Realität kennen, als ich das bisher tat, und bin in ihr Leben getreten, so wie sie in meins.

Die ersten drei Wochen in Argentinien verbrachten wir Freiwilligen im winterlichen Flores, einem Stadtteil (barrio) von Capital Federal (quasi der Innenstadt Buenos Aires’), in der Theologischen Fakultät, dem ISEDET.
Für uns insgesamt über 40 Freiwillige gab es dort täglich Sprachkurs sowie nachmittags und abends Angebote, um mehr über Politik, Geschichte, Wirtschaft und Kultur Südamerikas zu erfahren.
Darüber hinaus wurden wir in Artesania (Kunst wie Bänderknüpfen etc.), Murga (traditioneller argentinischer Trommeltanz) und Apoyo Escolar (Nachhilfe) unterrichtet. Alles Dinge, die wir in unserer täglichen Arbeit in den Projekten anwenden können.
In diesen drei Wochen wurden erste Freundschaften geschlossen, sich an den Giganten Buenos Aires herangetastet, erste Fortschritte in castellano (dem argentinischen Spanisch) gemacht und Mate (argentinisches Nationalgetränk) probiert und lieben oder hassen gelernt.

Schließlich hieß es Mitte August: Ab in die Projekte! Wir haben uns im ganzen Land und sogar in Urugay und Paraguay verteilt und nach all der Vorbereitungszeit sind wir endlich in unseren Einsatzstellen angekommen. Obwohl Florencio Varela nur etwa 1,5 Stunden von Capital Federal entfernt liegt, gestaltete sich die Hinfahrt für mich und die drei weiteren Freiwilligen etwas schwierig, was uns schon einen guten Vorgeschmack auf argentinische Eigenarten und Macken gab. Als der Taxifahrer letztendlich dank unserer Mithilfe unsere Wohnungen gefunden hatte, wurde mir erst richtig bewusst, dass ich nun wirklich ein Jahr ohne meine Familie und ohne meine Freunde in einem noch fremden Land leben würde.
Da ich vorher noch bei meinen Eltern gelebt habe, war es für mich eine besondere Situation, meine erste eigene Wohnung aufzuschließen. Es ist aber auch eine ganz besondere Wohnung, vor allem seit meine Mitbewohnerin Laura und ich sie immer bunter und bunter gestalten und ihr unseren persönlichen Stempel aufdrücken. Ich habe mich gleich sehr wohl in ihr gefühlt und freue mich immer noch jedes Mal, wenn ich die Wohnungstür aufschließe. Sie liegt im Zentrum von Varela an einer viel befahrenen Hauptverkehrsstraße und besteht aus einem Schlafzimmer, in dem Laura und ich schlafen, einem kleinen Bad und einem Raum, in dem sich Küche, Esszimmer und Telefonecke befinden. Es gibt sogar einen winzigen Balkon. Sie ist klein, aber fein!
Vor unserem Umzug wurden wir schon von unserer Vorgängerin Simone eingeladen, so dass wir Florencio Varela und die Wohnung schon ein wenig kennen lernen und von Simones Insiderwissen profitieren konnten. Sie hat uns alles gezeigt und sogar einen Plan der Umgebung gezeichnet, damit wir wissen, was wir wo kaufen können etc. Alles, was wir zum Leben brauchen, ist in greifbarer Nähe. Verduleria, Supermarkt, Lavadero (Wäschemann), Bäckerei und ein Fitnessstudio gegen die hartnäckigen Kilos.
Nach und nach richten wir uns immer mehr ein, haben noch das ein oder andere Möbelstück ergänzt, so dass wir uns wohler und wohler fühlen.

Nach dem ersten Wochenende in Varela lernten wir eine Woche jeden Tag ein anderes Projekt der Fundación Angelelli kennen. Diese Fundación hat vier große Kinder- und Jugendzentren (Bosques, Villa Argentina, Santa Inés und 3 de Mayo) sowie noch weitere Centros Comunitarios, die sie unterstützt.
Nachdem wir alle Projekte kennengelernt hatten, wurde mit unserer Chefin Karina besprochen, wer nun in welchem Projekt arbeiten wird.
Wir vier Mädels (meine Mitbewohnerin Laura sowie unsere Fastnachbarn Lisa und Anna) einigten uns schnell und so konnte der „Arbeitsalltag“ beginnen.
Natürlich unterscheidet dieser sich kolossal von unserem ehemaligen Alltag, der meist in der Schule oder im Zusammenleben mit der Familie oder Freunden stattfand.

Nun gehört mein Projekt, das Jugendzentrum und der Comedor „El Apoyo“ im Barrio Bosques, zu meinem Alltag, mit ihm eine mir vorher unbekannte Realität. In den Barrios humildes (Armenvierteln) um Buenos Aires gibt es kaum geteerte Straßen, fast nur Lehmwege mit schmalen Bürgersteigen an den Seiten. Wenn es regnet und selbst die Straßen hier im Zentrum mit den Wassermassen überfordert sind, verwandelt sich das Barrio in eine Schlammgrube. Die Kinder gehen bei Regen nicht in die Schule und bei ganz schlimmem Wetter findet auch das Centro nicht statt. Mangels Kanalisation fließen die Exkremente und der Müll durch die Gruben an den Straßenrändern.
Die Häuser sind häufig aus Wellblech oder Holz, einige aus Steinen gebaut. Viele bestehen nur aus einem einzigen Raum, in dem die ganze Familie lebt. Und die Familien hier sind groß! Es ist keine Seltenheit, wenn ein Kind in meinem Projekt 10 Geschwister hat. Warmes Wasser gibt es im Barrio nicht, auch fehlt manchen Familien Gas zum Kochen, und viele haben nicht einmal eine Heizung.

Es gibt fast so viele Straßenhunde wie Kinder, so kommt es mir vor. Sie suchen im Müll nach Essbarem und streunen überall herum. Zum Glück sind sie nicht aggressiv, sie wirken eher müde und kränklich.
Müll liegt überall herum. Abends wird er häufig verbrannt. Wenn ich ein Feuer sehe, kommt es mir erst immer ganz romantisch vor, bis mir dann wieder bewusst wird, dass es Müll ist, der da verbrannt wird.
Ich arbeite nun jeden Tag mit Menschen zusammen, für die diese Welt ihr Zuhause ist, denn alle meine Mitarbeiter kommen selbst aus diesem Barrio und leben dort. So ist die Hilfe auch ganz nah an den Menschen dran, denn niemand kennt die Probleme der Menschen dort besser als die Menschen, die selbst dort leben.
Meine Jugendlichen kommen fast alle aus schwierigen Familien, die natürlich mit Geldproblemen zu kämpfen haben, oft aber auch mit häuslicher Gewalt und sexuellen Übergriffen. Noch kenne ich nicht die Geschichten und Hintergründe aller Kinder, aber ich erfahre immer mehr. Ich will aber die Kinder und Jugendlichen auch uneingeschränkt kennen lernen und warten, bis sie mir etwas erzählen und nicht schon alles anderswo erfragen. Andererseits ist es natürlich manchmal auch wichtig, schon etwas über manche zu wissen, so dass man sensibel mit manchen Themen umgeht.
Meine Arbeitswoche sieht so aus, dass ich Montags bis Freitags von 14 bis 21 Uhr im Projekt bin und dort an verschiedenen Stellen mithelfe. Donnerstagsmorgen bin ich zusätzlich noch von 9 bis 11 Uhr in einem anderen Projekt im Barrio „San Cayetano“ zum Nachhilfegeben.
Wenn ich um 2 Uhr in Bosques ankomme, bin ich erst mit der Köchin alleine und wir beginnen, für die Merienda zu backen und das Abendessen vorzubereiten.
Die Merienda ist ein kleiner Imbiss, meistens Kuchen oder Brot, den die Kinder und Jugendlichen täglich mit Tee bekommen. Wir backen und schnibbeln etwa bis 4, dann trinken wir mit den anderen Mitarbeiterinnen Mate. Das Team besteht aus 6 Frauen und mir. Eine Hauptverantwortliche, die sich um die Organisation kümmert sowie als Animadora die Jugendlichen betreut; die Köchin, die für das leibliche Wohl sorgt; eine Frau, die jeden Tag mit den Kindern bastelt und 3 Mädchen in meinem Alter, von denen eine wie ich in der Küche hilft und zwei beim Basteln.
Mate ist das argentinische Nationalgetränk. Yerba, ein koffeinhaltiges Kräuterpulver, wird in einen Matebecher gegeben, mit heißem Wasser aus Themoskannen übergossen und durch die Bombilla (eine Art Strohhalm) getrunken. Einer bereitet den Mate zu und ist dafür zuständig, ihn zu verteilen. Das heißt, er gießt Wasser auf den Yerba, reicht den Mate einer Person, diese trinkt, bis das Wasser weg ist und gibt den Mate zum Zubereiter zurück. Dieser gießt neues Wasser drauf und reicht ihn der nächsten Person. So geht es immer weiter. Mate ist nicht einfach nur ein Getränk, sondern eher eine Philosophie. Es geht um Gemeinschaft und Teilen. Insofern ist es auch eher unhöflich, Mate abzulehnen. Außerdem trinken alle aus dem selben Strohhalm, was mir in Deutschland unmöglich vorkäme.
Da ich weder Kaffee noch schwarzen Tee mag, ist auch Mate nicht gerade mein Lieblingsgetränk. Wenn man ihn mit Zucker süßt, ist er aber erträglich und ich habe mich mittlerweile dran gewöhnt, auch wenn er mir immer noch zu bitter ist.
Nach der Materunde, in der wir auch aktuelle Themen oder Probleme besprechen, kommen um 5 die Kinder (5 bis 11 Jahre) zur Merienda. Meine Aufgabe besteht entweder darin, an der Tür zu stehen und den Kinder mit dem Seifenspender Seife auf die Hände zu geben, damit sie sich vor der Merienda die Hände waschen; oder darin, das Essen auszugeben. Eine Sache, die mich dabei stört, ist, dass die wenigsten Kinder grüßen. Ich sage tapfer bei jedem Kind „Hola!“, doch nur wenige antworten, geschweige denn bedanken sich für den Kuchen, den ich ihnen gebe. Das heißt jedoch nicht, dass sie mich nicht mögen oder völlig unhöflich sind, die meisten haben solche Manieren einfach nie beigebracht bekommen bzw. leben in einer Welt, in der Freundlichkeit und Höflichkeit eine untergeordnetere Rolle spielen.
Nach der Merienda wird von halb 6 bis 7 Uhr mit den Kindern gebastelt, manchmal helfe ich dabei, meistens bin ich um diese Zeit aber schon bei den Jugendlichen (12 bis 15 Jahre), serviere ihnen die Merienda und unterhalte mich mit ihnen, bis um ca. 6 Uhr die Talleres (Angebote/Workshops) anfangen.
Montags machen wir mit einer Tallerista Artesania, mit der ich mich mittlerweile auch schon etwas angefreundet habe. Wir knüpfen zum Beispiel Armbänder, machen Schlüsselanhänger aus Holz oder weben auf kleinen Rahmen.
Dienstags gibt es den taller de proyecto, in dem kleine Gruppenprojekte erarbeitet werden, oder Sport. Nächste Woche fange ich dienstags mit meinem Aerobic-Taller an. Da die Jungs meistens Fußball spielen und die Mädchen manchmal nichts zu tun haben, will ich mit ihnen Aerobic machen und ihnen so die Möglichkeit bieten, sich auszupowern und ein besseres Körpergefühl zu bekommen.
Mittwochs gibt es den espacio de reflexión, in dem mit der Psychologin Themen wie Drogen, Gewalt, Sexualität u.s.w. behandelt werden. Diesen espacio bereite ich gemeinsam mit der Psychologin vor. Morgen werde ich z.B. ein Lied über Drogen mit den Jugendlichen anhören und besprechen.
Donnerstags tanzen wir Murga, den argentinischen Volkstanz. Die Jungs oder manchmal auch ein paar Mädchen trommeln auf riesigen bunten Trommeln einen Rhythmus und der Rest tanzt. Es ist ein sehr ausdrucksvoller ursprünglicher Audruckstanz der Indigenas, der sehr kraftvoll und auch politisch ist.
Freitags gibt es eine asamblea (Versammlung), in der mit den Jugendlichen das besprochen wird, was aktuell anliegt, oder was in der letzten Woche nicht funktioniert hat. Außerdem gibt es Freitagsabends zum Abendessen Pizza, was ein Highlight der Woche darstellt. Sonst gibt es zum Beispiel Nudeln mit Fleisch und Tomatensoße, Huhn mit Reis, Linsensuppe, Nudeln mit Bolognaise oder Hackfleisch mit Kartoffeln und Käse. Das Essen ist eher fetthaltig und es gibt nur wenig Gemüse, was daran liegt, dass nicht viel Geld da ist und die Kinder möglichst satt werden sollen.
Zur Zeit bastele ich mit den Jugendlichen einen Adventskalender. Dieser Brauch ist hier nicht üblich und so zeige ich etwas von der deutschen Kultur und die Jugendlichen erhalten jeder ein kleines Geschenk, was wahrscheinlich ein Foto und Süßigkeiten sein wird.
Insgesamt kann ich mit Freude sagen, dass ich mich in meiner Arbeit sehr wohl fühle und respektiert werde. Ich habe ein gutes Verhältnis sowohl zu meinen Kollegen als auch zu den Kindern und Jugendlichen, was meine Arbeit sehr erleichtert. Gerade am Anfang war es sehr anstrengend, jeden Tag mit der Armut im Barrio konfrontiert zu werden, die fremde Sprache zu hören und zu sprechen und viele neue Menschen kennen zu lernen. Abends war ich immer total müde und erschöpft. Anstrengend ist es zwar immer noch; ich merke aber, wie sich der Alltag einpendelt und ich mich immer mehr integriert habe und Teil des Teams geworden bin. Da meine beiden Vorgänger Jungs waren, ist es für alle eine Umstellung, plötzlich eine „chica alemana rubia“ (blondes deutsches Mädchen) um sich zu haben. Auch wenn ich in Deutschland als brünett gelte, bin ich für die Menschen hier blond. Auch wenn manchmal noch der eine oder andere Spruch von einem pubertierenden Jungen kommt, finde ich, dass ich die Balance zwischen Kumpel und Respektperson gut gefunden habe und fühle mich respektiert und akzeptiert. Mein Verhältnis zu den meisten Jungs ist locker und freundschaftlich, ich kann gut mit ihnen reden, sie interessieren sich für mich und freuen sich darüber, wenn ich zu ihrer Musik mitsinge oder mit ihnen Ball spiele. Mit den Mädchen ist es teilweise einfacher gewesen, teilweise sind manche von ihnen aber auch ein bisschen schwerer zugänglich. Ich glaube, sie freuen sich aber, dass sie jetzt mal eine weibliche Freiwillige haben, mit der sie auch „Frauenkram“ besprechen können. Ich bin sehr glücklich in meinem Projekt, weil ich die Meisten der Jugendlichen auf ihre Art sehr lieb gewonnen habe und sie mir so gut entgegenkommen.

Zum Abschluss noch eine kleine Geschichte von einer meiner Mitarbeiterinnen aus dem Projekt: M. ist 19 Jahre alt und hat einen Sohn, der ungefähr 18 Monate alt ist. Als sie 11 Jahre alt war, hat ihre Mutter sie und ihre 5 kleineren Geschwister verlassen und ist weggegangen. Der Vater war sowieso fast nie da, so dass M. seitdem für ihre kleineren Geschwister sorgt. Für sie ist sie wie eine Mutter.
Dieses Beispiel zeigt, dass viele Kinder hier keine wirkliche Kindheit genießen dürfen. Ihnen wird zu früh zu große Verantwortung übertragen oder ihr Leben ist von Gewalt geprägt. Viele Väter sind Alkoholiker. Auch Drogen sind gerade in meinem Barrio ein großes Problem.
Was das centro social „El Apoyo“, in dem ich jetzt für ein Jahr arbeite, leistet, ist ein wichtiger Beitrag zur Unterstützung der Kinder und Jugendlichen aus dem Barrio. Auf materieller und physischer Ebene durch das Essen, auf psychischer Ebene durch offene Türen, offene Ohren, Unterstützung, Bildung, Spaß und Gemeinschaft. Für die meisten Jugendlichen ist das centro wie eine Familie.
Ich bin sehr froh darüber, die Möglichkeit bekommen zu haben, diese Erfahrungen zu machen und so viel Neues zu erleben und zu lernen.
Ich bin schon in diesen ersten drei Monaten sensibler für Themen wie Armut, Politik und soziale Gerechtigkeit geworden und auch bescheidener und gelassener.

Ich danke allen meinen Unterstützern und der Evangelischen Kirche im Rheinland dafür, mir dieses Jahr ermöglicht zu haben!

In drei Monaten melde ich mich mit dem zweiten Rundbrief wieder; wer nicht warten will, kann auf meinem blog mehr lesen: laurainargentinaaa.blogspot.com

Herzliche Grüße,

Laura Hofmann

Geld regiert die Welt

Seitdem ich hier bin, beschäftige ich mich so viel mit dem Thema Geld wie nie zuvor. Und das liegt nicht in erster Linie daran, dass ich jetzt selber für das Führen einer Haushaltskasse verantwortlich bin und Rechnungen bezahlen muss (aber auch das ist eine kleine Herausforderung!). Mein Umfeld hier muss sich einfach ständig mit "Plata" (umgangssprachlich Geld) beschäftigen, eben, weil es an allen Ecken und Enden fehlt.
Seit ein paar Wochen ist die Situation im Projekt allerdings so ernst wie nie. Die Provincia Buenos Aires gibt trotz Vertrag kein Geld mehr und das hat ganz direkte, gravierende Auswirkungen: Es gibt bald kein Abendessen mehr und die Mitarbeiter werden entweder gar nicht oder nur zur Hälfte bezahlt. Und müssen trotzdem ihre Familie versorgen. Seit Tagen reden wir im Projekt jetzt darüber, was wir tun können. Geplant sind schon einige Reuniónes mit anderen Centren, denn von dieser Geldsperre sind Projekte in der ganzen Provinz betroffen, außerdem Marchas (Demonstrationen), um auf die Situation in den barrios aufmerksam zu machen. Eine meiner Mitarbeiterinnen sagte mir, es gehe hier um politische Machtausübung. Die Provinz gibt erst gar kein Geld, dann weniger als versprochen, und hofft darauf, dass die Menschen sich dann damit zufrieden geben, weil sie froh sind, überhaupt etwas zu bekommen. Also betreiben wir jetzt Lobbyarbeit. Versuchen, die Öffentlichkeit zu erreichen, damit so Druck auf die Politiker ausgeübt wird. Diese scheinen sich nicht wirklich um die ärmsten Teile der Bevölkerung zu kümmern. In einem Gespräch mit einer Tallerista gestern, sprachen wir darüber, dass das Land die Sozialzentren nicht brauchen würde, wenn es z.B. mehr Arbeitsplätze, ein besseres Schulsytsem, generell eine stabilere Wirtschaft gäbe. Da dies aber nicht der Fall ist, werden solche centros comunitarios gebraucht. Meine Kinder im Projekt kriegen zu Hause keine warme Mahlzeit, für sie ist das Abendessen im centro eine feste Instanz, genau wie die Merienda nachmittags. Mir tut das so leid, mitanzusehen, wie sie ohne Essen gehen müssen, weil ich eben weiß, dass sie zu Hause nicht einfach wie ich den Kühlschrank aufmachen können, um sich was zu Essen zu machen. Das ist schon schwer zu verstehen für mich. Armut ist hier für mich so greifbar geworden. Aber auch Hilfe aus Europa. Heute haben wir z.B. einen neuen Schrank von der Caritas bekommen. Das ist schön, live mitzuerleben, wie solche Hilfe tatsächlich vor Ort ankommt. Andererseits ist es tragisch-komisch, dass wir z.B. letzte Woche unsere Küche im Projekt renoviert haben, neue Küchengeräte und eine Gefriertruhe, sowie diesen Schrank bekommen haben, andererseits aber bald kein Geld mehr für Essen haben. Das sind eben andere Geldquellen. Irgendwie verrückt. Es ist eben traurig aber wahr: Geld regiert die Welt.
Denn wenn ich mal kurz eine Gedankenkette anschließen darf: Arbeitslosigkeit (und ich will gar nicht sagen, dass daran nicht oft auch die Männer selbst schuld sind) führt zu Frustration, Frustration häufig zu Gewalt, Gewalt zu Angst und Abstumpfung, Abstumpfung zu neuer Gewalt - der Teufelskreis ist perfekt. Und ich spreche hier nicht von abstrakten Vorstellungen, sondern ich werde hier mit Gewalt konfrontiert. Sie betrifft zwar nicht mich persönlich, aber mein direktes Umfeld. Meine Arbeitskollegin (18), die mit mir in der Küche arbeitet, hat die ganze letzte Woche gefehlt, weil ihr Freund, mit dem sie ein Kind hat, sie mit seinem Krückstock (er hat nur ein Bein, weil er vom Zug überrollt wurde) so sehr auf die Hand geschlagen hatte, dass sie ihre Finger eine Woche lang nicht gebrauchen konnte. So etwas macht mich jedes Mal ganz schön ungläubig, besonders weil ich diesen Mann kenne und er mir immer so sympathisch vorkam. Hier kann ich mich nicht auf meine Menschenkenntnis verlassen.
Ich halte euch auf dem Laufenden, was unsere Finanzierungskrise betrifft!

Montag, 9. November 2009

Mein Argentinien - Teil 1: Klima

Nach nun über 3 Monaten werde ich manchmal gefragt, wie Argentinien für mich ist, wie ich es erlebe, was mir auffällt, was anders ist, was ähnlich...Obwohl ich in 3 Monaten und in der begrenzten Region, in der ich mich aufhalte, natürlich kein umfassendes Bild geben kann, versuche ich, euch einen Einblick in meine Empfindungen hinsichtlich dieses vielschichtigen Landes zu geben.
Fange ich mit dem an, was eher objektiv festzustellen ist: dem Klima. Das Wetter in Argentinien ist eine Zicke. Unberechenbar und ungeheuer launisch. Es wechselt von einem Tag auf den anderen schon mal um 20 Grad, ohne einem vorher auch nur die kleinste Vorwarnung zu geben. Du kannst dich nie sicher fühlen, wenn du das Haus in kurzer Hose und T-Shirt verlässt. Im nächsten Moment kann ein Gewitter heraufziehen, das dir den Weltuntergang vortäuscht. Der Winter war furchtbar. Die feuchte Kälte drang in die schlechtisolierten Häuser, in jeden Zimmerwinkel, in die Kleidung und ins Gemüt. Nie habe ich so gefroren wie hier. Nur dank meines tollen Minischlafsacks (danke noch mal!!) habe ich die Nächte ganz gut überstanden. Dagegen erscheckt der Sommer dich mit einer unglaublich feuchten Schwüle (Luftfeuchtigkeit in Buenos Aires im Sommer fast 100%), was wir an einigen Tagen auch schon erleben durften. Die Hitze ist so schweißtreibend, lähmt dich und gibt auch nachts nicht auf, dich möglichst effektiv vom Schlafen abzuhalten. Ich mag unsere Wohnung wirklich sehr, aber im Winter war sie kein warmer Zufluchtsort, sondern noch kälter als draußen und in den paar Sommertagen, die schon vorbeigehuscht kamen, verwandelte sie sich in ein Treibhaus, das uns entweder aufgedreht machte oder aber uns jegliche Energie raubte. Ich erinnere mich an das Bild, als meine Mitbewohnerin platt auf dem Bauch auf unserem improvisierten Sofa lag, während ich eine innere Unruhe verspürte und einen seltsamen Tatendrang. Es gibt also verschiedene Arten, auf Hitze zu reagieren. Wird ein gewisser Punkt allerdings überschritten, kommt auch bei mir der Lähmungspart. Mir graut vor dem Sommer, wenn sich hyperaktive Kinder in meinen Arm schmeißen werden und spielen wollen....
Um das Wetter in Buenos Aires (man muss in Argentinien ja unterscheiden, das Klima im Süden, Mitte und Norden unterscheidet sich schließlich kolossal) in Schutz zu nehmen, muss ich sagen, dass seit ein paar Tagen Frühlingswetter herrscht. Es ist nicht zu heiß und nicht zu kalt, was höchst selten vorkommt. Nachdem die letzte Woche von Gewittern und sintfluartigem Regen geprägt war, hat sich das Gemüt der Zicke anscheinend beruhigt und sie entschuldigt sich mit viel Sonne und angenehmen Temperaturen. Doch ich habe gelernt, diesem Braten nicht zu trauen!

Samstag, 7. November 2009

Von Toten Hunden und Toten Hosen

Letzte Woche lag auf dem Wiesenstreifen zwischen den Spuren der Hauptverkehrsstraße vor unserem Haus ein toter Hund. Der Anblick war unschön. Schon von weitem sah man diesen großen Fellhaufen leblos auf der Wiese liegen. Mir graute es ein wenig bei der Vorstellung, dass sich niemand für das Wegräumen des Leichnams verantwortlich fühlen würde. Schließlich verschwand der Hund aber über Nacht, so plötzlich wie er gekommen war. Pünktlich zu dem Tag, als wir die Toten Hosen in der Botschaft trafen.
Nachdem wir am Sonntag ein tolles Konzert von Campino und Co gesehen hatten, aus dem wir allerdings mit etwas Schwund herausgingen (2 Kameras und ein Handy wurden aus den Hosentaschewn geklaut, eine Handtasche aufgeschlitzt), bekamen wir am Dienstag die Möglichkeit, die Toten Hosen in der deutschen Botschaft hier in Buenos Aires zu treffen.
Es gab Brezeln, Bier und Tote Hosen. Naja, sie liefen durch den gut gefüllten Raum, man konnte kurz reden, Fotos machen und sich dabei sehr blöd fühlen: Eben wie ein anhänglicher Groupie.
Nicht so mein Ding. Also nutzen wir die Gelenheit zum freien Essen und Trinken und lernten viele weitere Freiwillige kennen, die wie wir rund um Buenos Aires arbeiten.
Der Tag endete gelungen in einem Restaurant in Belgrano, wo wir mit einer anderen Gruppe Freiwilliger Erfahrungen austauschten und uns einen schönen freien Dienstagabend machten.

Mittwoch, 28. Oktober 2009

Ausreise! - Montevideo und Colonia


Dank der Uneinigkeit der argentinischen Behörden angesichts der Visumserteilung haben wir argentinischen Freiwilligen noch kein Jahresvisum erhalten und mussten deshalb letztes Wochenende das Land verlassen - unser Touristenvisum, was 3 Monate gilt, war abgelaufen. Qué lastima! ;) Wir 4 Varela-Mädels Anna, Lisa, Laura und ich haben uns also auf den Weg nach Colonia de Sacramento gemacht, was mit der schnellen Fähre nur eine Stunde vom Puerto Madero in Buenos Aires entfernt ist.
Auf dem Rio de la Plata näherten wir uns dem grünen Colonia, was uns einladend empfing - das schmeckte schon ein bisschen nach Urlaub! Strahlender Sonnenschein, glitzerndes Wasser (wenn man davon absah, dass es grau-braun statt blau war) und das zweite südamerikanische Land, was ich kennenlernte - Urugay. Schon der Name klingt so exotisch, nach Urwald sagte mir jemand ;)
Urwald war es nun nicht gerade aber im Vergleich zur Betonwüste Buenos Aires auf jeden Fall sehr grün! Wir fuhren trotzdem direkt mit dem Bus weiter nach Montevideo, weil wir glaubten, die Hauptstadt Urugays habe noch mehr zu bieten und wir uns Colonia für einen entspannten Sonntag aufhoben.
Die Fahrt nach Montevideo im Reisebus dauerte 2 Stunden, die ich fast komplett verschlief.
Angekommen, checkten wir in einem tollen Hostel ein,
total zentral an der Plaza de Independencia gelegen. Montevideo gefiel mir schon auf den ersten Blick total gut. Ähnlich wie Buenos Aires, aber überschaubarer und sauberer. Abends gingen wir schön essen. An dieser Stelle muss ich einmal den lonely planet Argentinien loben, der uns dieses Wochenende mit wirklich guten Tipps beschenkt hat. Allen Reisenden sehr ans Herz zu legen!
Für den nächsten Tag war Feria und Rambla-Spaziergang geplant. Dabei hat Montevideo unsere Herzen dann komplett erobert. Wir sind auf der Rambla neben dem Strand vorbei an Palmen vom Süden der Stadt bis in den Stadtkern gelaufen und waren total verzaubert. Es gibt wirklich schöne Sandstrände, tolle Parks mit Palmen und kleinen Seen, auf denen man Treetboot fahren kann, schöne, alte Gebäude und leckeres Gebäck an jeder Ecke.
Nach einer kurzen Verschnaufpause im Hostel und einem Plausch mit unseren internationalen Zimmernachbarn (wir waren in einem 8-er Zimmer mit einem jungen Mann aus Israel, einem Amerikaner aus Kalifornien und einem merkwürdigen Opa aus Keine-Ahnung-Wo), wollten wir uns dann die Altstadt angucken.
Hätten wir das bloß nicht gemacht!
Es war mittlerweile doch schon kurz vor 8 und begann zu dämmern. Colonias "ciudad vieja" lag dunkel und verlassen vor uns, was uns nach kurzer Zeit schon komisch vorkam. Auf dem Weg zum Hafen kamen dann 2 Jugendliche und sprachen zuerst Laura und Martin, die hinter Anna und mir liefen, an. Von da an war klar: Die wollen Stress machen und wir sollten uns so schnell wie möglich flüchten. Leider leichter gesagt als getan. Die Straßen waren duster und der größere Platz mit mehr Menschen doch schon einige Blocks entfernt. Es war ein wenig wie eine Verfolgungsjagd. Wir versuchten, zügig zu laufen ohne zu rennen und geistesgegenwärtig steckte ich meine Kamera vorsichtshalber in meine Hosentasche. 5 Minuten später passierte es dann: Wir bogen in eine Seitenstraße ab, die beiden Jungs kamen von hinten angerannt und rissen wir meine Tasche vom Tragegurt (existiert dieses Wort?) ab. Es ging so schnell und war so ein Schock, dass ich gar nichts gemacht habe, außer, dass mir sofort die Tränen gekommen sind, weil ich so viel in dieser Tasche hatte....Mein Portmonnaie mit Bargeld und Geldkarten und meiner Tote-Hosen-Konzertkarte, mein Handy, meinen Schlüssel, mein Wörterbuch, Annas lonely planet, Ronjas Geburtstagsgeschenk...und es war noch nicht ganz vorbei. Wir mussten zügig ins Hostel zurück, bevor noch etwas passierte. Anna hielt mich nun am Nacken gepackt und redete beruhigend auf mich ein, bis wir endlich ins Hostel kamen und ich meinen Verlust angemessen beweinen konnte. Wer mich kennt, weiß ja, dass ich relativ nah am Wasser gebaut bin...außerdem war diese Situation wirklich so unschön und erschreckend!
Das leidige Thema der Karten-Sperre lag vor mir, was nur so semigut funktionierte, da ich am nächsten Tag erfuhr, dass trotz der Zusage des Mannes am Telefon meine Karte am nächsten Tag immer noch nicht gesperrt war.
Nun ja, ich bin froh, dass uns nichts passiert sind und aller materieller Schaden ist schließlich zu ersetzen. Ein Überfall in 3 Monaten ist normal, würde ich sagen. Andere Freiwillige haben in dieser Zeit schon 3 erlebt.
Apropos 3: So viele Monate bin ich jetzt schon hier, ein Viertel des Jahres ist schon um und mein erster Rundbrief steht an. Daran werde ich mich heute Abend setzen. All diejenigen, die meinen blog verfolgen, werden wahrscheinlich schon das Meiste wissen, aber so ein Brief ist ja trotzdem eine schöne Sache. Bald kommt also für einige von euch Post aus Argentinien!
Ich muss sagen, dass die 3 Monate schnell vergangen sind und ich jetzt auch wirklich das Gefühl habe, angekommen zu sein, mein Leben hier gefunden zu haben und mich auf die weiteren 9 Monate freue! Und besonders auf den Besuch, den ich noch kriegen werde!

Bei allen Überfall-und Zeitgeschichten darf ich aber nicht Colonia vergessen, das wir dann Sonntag erkundet haben. Einfach hübsch, anders kann ich es nicht nennen. Eine hübsche, kleine, süße Stadt, in der wir den Leuchtturm erklommen haben und so einen tollen Blick auf den Rio und die malerische Altstadt (übrigens Weltkulturerbe!) werfen konnten, abends den Sonnenuntergang am Strand bestaunt haben und in einer heimeligen Pension die letzte Nacht unseres Kurztrips verbracht haben.
Es war wirklich ein gelungenes Wochenende, auch der Vorfall mit dem Überfall konnte es nicht ganz trüben. Und Montevideo bleibt mir trotzdem in guter Erinnerung, das nächste Mal schaue ich mir die Altstadt bei Tag an! :)

Dienstag, 13. Oktober 2009

Tucumán - Encuentro de Mujeres


Der heiße Norden Argentiniens, 20 000 Frauen, 3 Tage - das war das 24. Encuentro de Mujeres in San Miguel de Tucumán. Mittendrin 3 kleine Deutsche - Laura, Lisa und ich.
3 spannende, heiße Tage, in denen wir Zeugen des Unabhängigkeitskampfes der argentinischen Frauen wurden, eine neue Landschaft kennenlernten und einen Miniurlaub genossen - so wie es bei dem Stress eben ging.
Unser Kurztrip startete am Freitagmorgen um halb 12. Mit einem großen Reisebus fuhren wir drei Voluntarias mit 8 Frauen aus unseren Projekten und weiteren Frauengruppen aus der Umgebung los in Richtung Norden. Die 20-stündige Fahrt verlief entspannt ohne Komplikationen, bis auf die Tatsache, dass der argentinische Busfahrer es für angebracht hielt, um halb 2 Uhr nachts den Spielfilm zu starten. Sehr zu unserem Ärger. Schlafen ging dann eher so semigut.
Morgens um halb 10 kamen wir dann an, etwas übermüdet, aber frohen Mutes. San Miguel de Tucumán lockte mit strahlendem Sonnenschein, Palmen und schönen Bauwerken wie dem Congreso und der Casa de Tucumán.
Die Tage verbrachten wir dann entweder in einem der zahlreichen Workshops mit Themen wie Abtreibung (die ist in Argentinien nämlich noch verboten), Gewalt, Homosexualität, Gesundheit, Familie, Kunst und Kultur, Kommunikationsmedien etc., oder im Café um uns mit frischgespresstem Orangensaft zu erfrischen ( der Orangensaft ist hier immer frisch gepresst um kostet umgerechnet nur etwas mehr als 1 Euro), oder auf einem nahegelegenen Berg, um die Aussicht und die Natur zu genießen. War eine willkommene Ablenkung zur Betonwüste Buenos Aires.
Das Thema Abtreibung ist hier äußerst brisant und für mich sehr interessant zu sehen, wie die Frauen hier für Rechte kämpfen, die die deutschen Frauen in den 60er- Jahren mit Alice Schwarzer oder in Frankreich mit Simone de Beauvoir schon längst durchgesetzt haben. Überall liefen Frauen in T-Shirts mit der Aufschrift "Yo aborté" (Ich habe abgetrieben) herum. Erinnerte mich total an die 60-er Jahre-Bewegung in Deutschland. Obwohl ich da ja noch gar nicht geboren war. Da Abtreibung nicht legal durchgeführt wird, sterben jedes Jahr Tausende von Frauen durch illegale verpfuschte Abtreibungen. Der Konservatismus Argentiniens ist hier deutlich zu spüren, wie auch die Tatsache, dass Argentinien "noch nicht so weit" ist wie beispielsweise Deutschland. Auch was Themen wie das Internet betrifft. Große Teile der Bevölkerung sind noch längst nicht "internetfit" und somit von der Modernisierung ausgeschlossen. Auch darüber wurde in den Workshops gesprochen.
Wir haben in einer Schule übernachtet, 10 Frauen in einem Klassenzimmer. Durch die harte Isomatte und Enge im Raum waren die Nächte kein großes Vergnügen. Außerdem gab es nur eine einzige Dusche in der Schule, die darüber hinaus nur kaltes Wasser abgab. Ein Abenteuertrip! Nach dem ganzen Tag in der Hitze und im Straub und Dreck war man aber einfach nur froh, irgendwie mit Wasser in Berührung zu kommen.
Abends sind wir mit den Frauen aus unseren Projekten in ein "Tenedor libre"-Restaurant ("Freie Gabel" - All you can eat) gegangen und haben dort nach argentinischem Brauch Asado und mehr gegessen...wovon auch schon einige Fotos zeugen. Das argentinische Essen ist einfach immer süß oder fettig oder beides. Verhängnisvoll.
Ein Marsch der Frauen in die Stadt zum Zeichen des Protests, der Unabhängigkeit und der Stärke war der krönende Abschluss des 24. Frauentreffens in Tucumàn.
Inhaltlich konnten wir zwar nicht viel aufnehmen, aber die Athmosphäre und die Energie, die diese Tage hergaben, waren beeindruckend und haben nachdenklich gestimmt. Es gibt noch viele Dinge, für die die Frauen hier kämpfen müssen. Mit der Power, die sie in Tucumán gezeigt haben, werden sie ihre Ziele sicher nach und nach erreichen!

Montag, 5. Oktober 2009

Pilgern?! - die 2.!

Madre,
tu mirada
renueva nuestra esperanza


Huhu, ein Lebenszeichen. Ich hab's also überlebt. Unbeschädigt, sogar der Muskelkater lässt noch auf sich warten...
Gleich vorweg, ich habe leider nicht die 54 Kilometer durchgehalten, sondern mir nach 35 Kilometern den Rest geschenkt und mich den Helfern angeschlossen.
Leider hatte ich meine Kamera vergessen, was sehr schade ist, das wären sicher tolle Fotos geworden.
Ich versuche, es euch zu beschreiben: Pralle Sonne, eine breite Straße, tausend Menschen, von jung bis alt, der Straßenrand ist gesäumt mit Fressständen - Parrillas mit Fleischbergen, Obstsalat, Panchos (Hot-Dogs) und natürlich Getränke en masse. Wohin man sieht, Gemeinden, die mit Bannern und Megaphonen ihre Mitglieder anfeuern. Außerdem zahlreiche Massagestände, Plätze zum Ausruhen, zum Pulsmessen etc. Es war wirklich ein eindrucksvolles Spektakel.
Ich bin mit meiner Arbeitskollegin und ihrem Mann 5 Stunden zügig gelaufen, mit nur 15 Minuten Pause zwischendurch. In meinem rechten Oberschenkel fing es schon nach einer halben Stunde an zu ziehen. Der linke zog dann nach 2 Stunden nach, so dass ich dann nach den 5 Stunden entschloss, statt weiterer 5 Stunden in der schon sehr starken Sonne (siehe Sonnenbrand in meinem Gesicht ;)) mich zu den Helfern der Gemeinde meines Projektes zu gesellen und dann mit dem Bus weiter nach Lujan zu fahren.
Als wir um 8 Uhr abends in Lujan ankamen, war die Stadt schon überfüllt mit Pilgern. Sie strömten in Massen in die wunderschöne Kirche, um die "virgen de Lujans", also die Jungfrau von Lujan zu sehen. Es ist ein Versprechen, was sie ihr geben. Sie kommen, um um etwas zu bitten. Sie laufen den ganzen Tag, damit ihr Wunsch von der Jungfrau erhört wird. Ich habe viele Menschen gesehen, die weinten, als sie endlich an ihrem Ziel angelangt waren. Manche mit tränenüberströmten Gesichtern, andere mit Tränen in den Augen, wieder andere hingegen ganz nüchtern und scheinbar unberührt. Die Athmosphäre war festlich, ausgelassen. Die Menschen sangen laut beim Zurücklegen der letzten Meter. Sie nahmen sich in die Arme und tanzten. Es löste sich eine Anspannung, das war spürbar.
Letztendlich war ich an diesem Tag von 5 Uhr morgens bis 4 Uhr morgens unterwegs. 23 spannende Stunden! Auch wenn ich mich nicht mit dem Pilgern identifizieren kann, war es eine tolle Erfahrung. Richtig argentnisch, richtig mitreißend. Diesen Tag werde ich sicher nie vergessen. Und das ist ja mal etwas wert!

Freitag, 2. Oktober 2009

Pilgern?!

Ja. Morgen werde ich nun also pilgern. 54 Kilometer an einem Tag, kein Scherz.
Sollte dies mein letzter Eintrag sein, wisst ihr, woran es liegt..
Dass ich einmal pilgern würde, hätte ich gar nicht gedacht. Hatte damit bisher nicht viel am Hut. Als ich zusagte, wusste ich allerdings auch noch gar nicht, worum es sich handelt. Meine Arbeitskollegin sprach von einer großen Wanderung, bei der Tausende mitmachen, mit Stopps zum Essen und Trinken (da bin ich natürlich hellhörig geworden ;)). Ich sagte spontan zu. Schließlich bin ich hier, um viele neue Erfahrungen zu sammeln. Wenn Pilgern dazugehört, bitte.
Achja, dass es sich also um's Pilgern handelt, habe ich erst ca. 2 Wochen später erfahren. Tausende Argentinier pilgern einmal im Jahr nach Lujan, zur heiligen Jungfrau oder so was. Ok, so ganz ernst nehmen kann ich so was eigentlich nicht. Klar, ich respektiere und toleriere es, aber es entspricht nicht meiner Form des Glaubens. Aber ich finde es sehr interessant, es mitzuerleben.
Mal sehen, was ich morgen dazu sagen werde. Ich werde morgen um halb 5 aufstehen, mich ab 5 Uhr vor die Tür stellen und hoffen, dass ein colectivo (Bus) kommt. Kommt keiner, muss ich mir ein Remis (eine Art Taxi) nehmen. Um 6 treffen wir uns an der Kirche in Bosques, fahren mit einem Bus nach Capital und pilgern dann von dort aus nach Lujan. Den ganzen Tag, bis etwa 3/4 Uhr in der Nacht. Ich muss gestehen, ich habe ein bisschen Angst. So viel bin ich noch nicht mal ansatzweise gewandert. Außerdem war ich die letzte Woche nicht im Fitnessstudio, weil ich krank war und habe mich viel von Plätzchen und Brot mit Himbeermarmelade ernährt...
Wie es mir ergangen ist, erfahrt ihr dann am Sonntag. Werde die morgige Nacht im Haus meiner Chefin verbringen, direkt neben dem centro und am nächsten Tag mit den Mitarbeiterinnen das Bingo vorbereiten und durchführen. Dazu auch Sonntag mehr.
Also ihr Lieben, denkt an mich morgen, wenn ich schwitzend und fluchend die Kilometer zurücklege!

Sonntag, 27. September 2009

Hochs und Tiefs - der 2. Monat


Gestern waren es zwei Monate, die ich nun schon hier in Argentinien verbracht habe.
Sie waren von vielen Hochs und ein paar Tiefs geprägt, sowohl was das Wetter betrifft, als auch meine persönliche Stimmung.
In meinem Projekt fühle ich mich mittlerweile immer wohler und merke, wie ich meinen Mitarbeitern Stück für Stück näher komme und als Teil des Teams akzeptiert werde. Auch die Beziehung zu den Jugendlichen wird enger, ich merke, sie vertrauen mir.
Es ist aber viel schwieriger, sich selbst wirklich einzubringen. Man könnte es so ausdrücken, dass ich in der ersten Zeit viel gesehen und gestaunt habe, fast unfähig mich zu bewegen. Natürlich nicht wirklich, aber im übertragenen und überspitzten Sinne schon. Es kostet Zeit, Sprache, viele Ideen und Selbstbewusstsein, sich mit eigenen Aktionen ins Porjekt einzubringen. Ich habe mir vorgenommen, in nächsten Monat spielerisch mit Englisch zu beginnen. Zur Zeit mache ich mit der Psychologin, die mittwochs mit den Jugendlichen arbeitet, ein Theaterprojekt, das die Themen Drogen, Gewalt, Sexualität und sexuellen Missbrauch verarbeiten soll. Diese Themen haben die Jugendlichen alle selber vorgeschlagen und zeugen von ihrer persönlichen Erfahrung.

Teilweise fühle ich mich hier rundum wohl und bin sehr zufrieden, an anderen Tagen geht es mir nicht so gut, ich habe Heimweh und vermisse meine Familie und meine Freunde. Manchmal gibt es Tage, an denen ich mir deplatziert und überflüssig vorkomme. An denen ich einfach müde und ausgelaugt bin und gerne mal zu Hause wäre.
Aber es gibt diese Momente. Momente, in denen die Köchin mich in den Arm nimmt, ich mit den Jugendlichen zur Radiomusik abgedreht tanze, mich ein schüchternes Kind anlächelt, ich mich beim Aerobic auspowere, ich staunend durch Palermo laufe, mich treiben lasse im Großstadttrubel - und mich völlig richtig hier fühle.
Es ist schwerer als gedacht, aber ich will trotzdem eigentlich nirgendwo anders sein und nehme die Herausforderung gerne an.
Das ist mein Fazit der ersten beiden Monate.

San Cayetano

Donnerstagmorgens arbeite ich zusätzlich zu meinem Projekt in Bosques im Barrio San Cayetano im centro comunatrio, um dort Apoyo Escolar (Nachhilfe) zu geben.
Die ersten beiden Wochen wurde ich von meiner Wohnung aus ins Barrio begleitet, ab dieser Woche werde ich alleine fahren. Von 9 bis 11 Uhr können die Kinder des Barrios dort mit den Mitarbeitern zusammen ihre Hausaufgaben machen. Ich habe bisher jedes Mal mit einem 7-jährigen Mädchen gearbeitet, die gerade lesen und schreiben lernt. Wir machen zusammen ihre Hausaufgaben für Spanisch/Castellano, was für mich und für sie jede Woche eine Herausforderung darstellt. Mich kostet es jedes Mal eine Unmenge an Geduld, da sie gar keine Buchstaben lesen kann, sich schlecht konzentriert, sich ablenken lässt und auch nicht so schnell im Denken ist. Sie kostet es auch sichtlich Mühe, sich länger am Stück zu konzentrieren, ruhig zu sitzen und Buchstaben im Alphabet zu suchen.
Dass ich als Ausländerin, die nicht perfekt spanisch spricht, ihr eben dies beibringen soll, ist eigentlich paradox. Ich versuche, ihr die Grundlagen zum Lesen und Schreiben beizubringen, was in der Schule anscheinend versäumt wird. Sie soll die Namen von Gegenständen neben die Bilder dieser schreiben, kann aber gar keine Buchstaben lesen, schafft es noch nicht, vom Hören auf Buchstaben zu schließen, geschweige denn, sie dementsprechend in die richtige Reihenfolge aufschreiben. Ich schreibe ihr dann zum Beispiel das Wort ganz groß und deutlich auf und lasse sie jeden Buchstaben in ihrem Alphabet suchen. Das Alphabet verbindet die Buchstaben mit Gegenstände, Tieren etc. Ich versuche zu erreichen, dass sie zu jedem Buchstaben die Verknüpfung zum Gegenstand im Kopf hat, um so Schritt für Schritt zu lernen, wie sich der Buchstabe im Wort anhört. Es ist wirklich nicht leicht und ich bin jedes Mal froh, wenn die zwei Stunden vorbei sind und ich wieder nach Hause fahren kann. Trotzdem ist die Arbeit irgendwie erfüllend, weil ich merke, dass ich dort echt gebraucht werde, weil nur in der ganz engen Betreuung der Kinder eine Chance zur Verbesserung liegt. Außerdem freue ich mich über jeden noch so kleinen Fortschritt, den Belen macht. Ich habe den Ehrgeiz entwickelt, ihr in diesem Jahr jetzt wirklich Lesen und Schreiben beizubringen, dafür müsste ich wahrscheinlich aber öfter als einmal die Woche Zeit mit ihr verbringen.
Das Barrio San Cayetano ist noch eine Spur ärmer als Bosques, wo ich nachmittags arbeite. Der Fluss, der hindurch fließt, ist von Müll zugeschüttet. Du siehst den Kindern die Armut an. Sie tragen zerrissene Kleidung, haben Karies, riechen schlecht und sind generell eher ungepflegt. Wenn mein Nachhilfemädchen lacht, und das tut sie oft, versetzt mir der Anblick ihrer schwarzumrandeten Milchzähne, jedes Mal einen Stich.
Manchmal weiß ich gar nicht, wo man mit der Hilfe ansetzen soll - es sind so viele Dinge, die verbessert werden müssten. Hygiene, medizinische Versorgung, Ernährung, die Wohnsituation, Bildung. Bildung - an welcher Stelle steht sie hinsichtlich dieser Verhältnisse? Ist sie, wie die westliche Welt wohl sagen würde, der Schlüssel zum Ausstieg aus dem Elend; oder ist sie neben den elementaren Dingen, die Menschenwürde gewährleisten sollen, nur zweitrangig?
Wie macht man den Kindern und Jugendlichen klar, dass es wichtig ist, Englisch zu lernen? Dass es wichtig ist, rechnen zu können?

Donnerstag, 24. September 2009

Bilder!!!

Aufgepasst: Ab sofort könnt ihr euch hier meine Fotos angucken. Rechts oben seht ihr einen Link zu meinem Webalbum. Leider ist er nicht besonders auffällig, deswegen mache ich noch mal hier darauf aufmerksam. Viele Bilder sind es bisher nicht, aber ich arbeite daran! Erste Impressionen aus meinem Projekt gibt es aber schon!
Viel Spaß beim Angucken!

Sonntag, 20. September 2009

Wochenende in Capital


Den gestrigen Samstag habe ich in Capital verbracht.
Um 10:30 Uhr war eine Stadtführung mit einem älteren deutschen Herren angesetzt, der für uns Freiwillige solche Angebote macht. Wir trafen uns am riesigen Bahnhof Retiro, der von meiner Wohnung in Varela etwa eine Stunde mit dem Bus entfernt ist.
Von dort aus starteten wir nach einem ersten Kaffee bzw. Orangensaft im Bahnhofscafé unseren Spaziergang. Von der Plaza San Martin ging es über die Shoppingmeile Florida zum Plaza de Mayo und schließlich mit der subte (U-Bahn) nach Congreso. Hier und da bekamen wir etwas erzählt, Historisches, Aktuelles, Tips etc. Mittags aßen wir Pizza und beendeten schließlich die kleine Tour nachmittags in einem schicken Café in der Nähe des Congreso.
Anschließend bin ich mit Merle und Mateo wieder in die Florida zurückgekehrt, wo wir nach Lederjacken gesucht haben. Die Auswahl dort ist riesig und nach etwa einer Stunde habe ich auch tatsächlich meine Traumjacke gefunden :) Ein Geschenk meiner Eltern zu meinem Geburtstag.
Danach stand noch eine spannende Sache an: Ich hatte mich entschlossen, mir einen Ring oben durch's Ohr stechen zu lassen. Ein Piericing, aber ein harmloses. Mateo und Merle haben mich in das Studio begleitet, Händchen gehalten, Fotos gemacht (Eine riesige Nadel durch mein Ohr!!) und mir Mut gemacht. Es tat schon weh, allerdings weniger als gedacht und es war ganz schnell vorbei. Mit dem Ergebnis bin ich sehr zufrieden! Es sieht schon so aus, als hätte ich das immer schon gehabt, tut kaum noch weh, nur noch, wenn ich es drehen muss.
Zum Abschluss des gelungenen Tages haben wir in Merles WG Spaghetti Bolognaise gekocht, zusammen gegessen und sind danach weiter nach Quilmes zur Geburtstagsfeier von Christoph gefahren. Dort war wieder eine kleine Freiwilligenversammlung, wir haben Empanadas und Brownies gegessen und sind später noch in die Boliche gegangen, in den Club 21 in Quilmes.
Die Musik war ganz gut, wir waren eine große Gruppe, haben getanzt, hatten Spaß.
Schließlich haben Laura und ich ein Remis nach Hause genommen und sind direkt eingeschlafen. Es war wirklich ein langer Tag.
Mein Sonntag heute war viel ruhiger: Ausschlafen, etwas essen, mit Merle zur Feria hier in Varela gehen, ein bisschen die Wohnung putzen, Lesen, Blog schreiben...
Gleich werde ich für Laura kochen und später gehen wir vielleicht noch ins Kino, was wir Sonntags oft machen.
Morgen ist eine Fiesta in meinem Projekt, wir feiern den "Dia de la primavera". Also werden die ersten Fotos aus meinem Projekt bald kommen - morgen werde ich die Gelgenheit nutzen!
Gute Nacht nach Deutschland und eine gute neue Woche euch allen!

Mein erstes Asado


Letzten Samstag habe ich meinen Geburtstag mit einem kleinen Asado gefeiert. Sofia, eine weitere Freiwillige, die auch in der Nähe wohnt, hatte einen Tag vor mir Geburtstag und daher haben wir beschlossen, zusammen zu feiern. Da unsere Wohnung für fast 20 Leute doch zu klein ist, haben wir die kleine Feier zu Lisa und Anna nach nebenan verlagert, deren Patio dann zum Grillen diente.
Die Vorbereitung des argentinischen Barbecues gestaltete sich dann doch schwieriger als erwartet: Geschlagene 2 Stunden waren Lisa und ich damit beschäftigt, den 5-Kilo-Fleischberg vom Fett zu befreien und in kleinere Stücke zu schneiden. Das etwas ernüchternde Ergebnis unserer Arbeit war dann, dass am Ende mehr Fett als genießbares Fleisch übrig blieb. Genug war es aber immer noch.
Wie bei "Mädchengeburtstagen" üblich, gab es sehr viel zu essen: Laura und Anna hatten Plätzchen, Empanadas und Tortas Fritag gebacken, außerdem gab es Salate und Kuchen, Brot und natürlich Fleisch. Da wir insgesamt 22 deutsche Freiwillige im Großraum Buenos Aires sind, wurde die Wohnung voll, viel gegessen, getrunken, geredet, gelacht und gegrillt. Dies kommentierte der Hausverwalter am Montag dann mit den Worten: "Mucho ruido el sabado..." Ich jedoch halte die Nachbarn für verantwortlich, die waren viel lauter als wir!
Ich habe eine sehr schöne Palme für mein Zimmer geschenkt bekommen, außerdem noch eine sehr hübsche Pflanze mit pinken Blüten, die nun beide mein und Lauras Zimmer verschönern.
Es war ein schöner Abend, der meine Woche abrundete und viel Spaß gemacht hat. Mein erstes Asado ist also gelungen - wenn auch das Fleisch ein wenig zäh war.

Freitag, 11. September 2009

Mein 19. Geburtstag


Mein 19. Geburtstag vor 2 Tagen war der erste Geburtstag, den ich ohne meine Familie und ohne meine Freunde aus Deutschland verbracht habe.
Dafür war er aber doch ganz schön. Am Abend zuvor habe ich mit Laura, Lisa, Anna und Cris mit viel Torte, Kuchen und Plätzchen gemütlich reingefeiert und um 12 schon den ersten Anruf in Empfang genommen ;)
Am Tag selber musste ich leider schon um 6 Uhr aufstehen, weil wir schon um 7 Uhr zu einer Konferenz nach Capital aufbrechen mussten.
In der Konferenz ging es um die Situation der Centren, um Probleme und Verbesserungsvorschläge. Es gab viel Mate und in der Mittagspause Empanadas, eben typisch argentinisch. Pia hat mir einen kleinen Kuchen und einen Blumenstrauß mitgebracht und in der Pause wurde für mich gesungen.
Abends waren wir wieder in Varela und wieder zu fünft bei Pizza libre, einem Restaurant, in dem man für 15 Pesos (knapp 3 Euro) so viel Pizza essen kann, wie man möchte.
So klang der Tag gemütlich aus.
Es war ein ganz anderer Geburtstag als sonst - aber von Veränderung lebt ja das Leben ;)
Gestern habe ich anlässlich meines Geburtstags dann Haribo mit ins Projekt gebracht, worauf sich die Kinder im wahrsten Sinne des Wortes gestürzt haben!
Über die Briefe, Pakete und Nachrichten habe ich mich sehr gefreut, gerade, weil ich so weit von zu Hause weg bin. Danke!

Von Menschen und Hunden

Ich habe schon länger nicht mehr geschrieben, was davon zeugt, dass ich wenig Zeit bzw. Freizeit habe und diese dann entsprechend vollgepackt ist mit den Dingen, die ich mir vorgenommen hatte zu tun, allen vorweg Sport und Bildung bzw. Weiterbildung in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Geschichte.
Ich bin ganz zufrieden mit mir, denn immerhin gehe ich mindestens zweimal die Woche ins Fitnessstudio am Park von Varela, mache Aerobic oder trainieren an den Geräten und lese fast jeden Tag in meinem schlauen Buch oder im Internet um wenigstens etwas auf dem neusten Stand zu bleiben und zu erfahren, was in der Welt so passiert.
In meiner Welt hier passiert doch so einiges. Aber vor allem merke ich, wie langsam Routine und Alltag in mein Leben zieht, was beruhigend ist, weil einem so alles leichter von der Hand geht und nicht mehr alles ganz so neu erscheint.
Inzwischen habe ich mich gewöhnt an die tägliche Busfahrt ins Projekt, die wie eine Zeitreise erscheint. Der Colectivo 500 (3 Bosques) bringt mich jeden Tag in eine andere Welt. Ich steige ein und alles erscheint "normal", ähnlich wie in Europa: Geteerte Straßen, Autos, normale Häuser, Geschäfte....Ich fahre und nach etwa 15 Minuten verändert sich das Bild allmählich. Der Müll am Straßenrand häuft sich, die Häuser werden kleiner, ihr Material verändert sich, sie sind halb offen, bestehen nur aus ein paar Steinen oder Holzbrettern, am Straßenrand verlaufen Gräben, in denen Abwasser und Müll schwimmt, überall laufen Hunde herum, die erbärmlich aussehen.
Ja, das habe ich alles schon berichtet aber ich kann das nicht oft genug erzählen, denn es begleitet mich jeden Tag. Jeden Tag verbringe ich 7 Stunden in dieser Umgebung und lerne die Menschen kennen, die ihr ganzes Leben dort wohnen. Ohne warmes Wasser. Ohne Klospülung. Ohne Föhn (ja, das erscheint nicht so wichtig aber meine Mädchen im Projekt kommen jeden Tag bei den Temperaturen im Moment mit nassen Haaren!), Ohne Heizung. Ohne Isolierung. (Die beiden Dinge gibt es selbst in unserer Wohnung nicht bzw. kaum). Ohne Privatssphäre.
Ich könnte noch viele Dinge mehr aufzählen, aber ich möchte nicht melodramatisch werden.

Auch in meinem Projekt, das im Vergleich zu anderen noch relativ gut ausgestattet ist, mangelt es an vielem. Auch wir haben kein warmes Wasser, spülen also jeden Tag das ganze Geschirr mit kaltem Wasser, was in Hinblick auf Hygiene nicht gerade beruhigend ist. Für Obst und Gemüse ist kaum Geld da, für die etwa 20-25 Jugendlichen, die jeden Abend dort essen, gibt es immer etwa 2 Möhren, eine Paprika und 8 Zwiebeln. Dafür aber fast immer Fleisch, das ist hier spottbillig.

Ich habe die Kinder und Jugendlichen aus dem Centro, aber auch meine Mitarbeiterinnen, schon sehr ins Herz geschlossen und weiß jetzt schon, dass es schwer wird, sie wieder zu verlassen.

Die Kinder sind alle so süß. Ich merke, wie sie auch mir gegenüber immer offener werden und es freut mich, diese Entwicklung zu verfolgen.
Sie kommen jeden Tag um 5 zur Merienda. Dafür bilden sie vor der Tür eine Schlange, jeweils 3 von ihnen kriegen von Romy, einer Mitarbeiterin in meinem Alter Seife in die Hand und gehen ins Bad, wo sie sich die Hände waschen. Danach bekommen sie von mir das Essen (Kuchen, Brot oder Löffelbiscuit) und einen Becher Tee.
Beim Betreuen des Händewaschens fällt mir oft auf, wie vernarbt die Händer der Kinder teilweise sind, von verdreckt mal ganz abgesehen. Die meisten von ihnen haben keine Mutter, die ihnen regelmäßig die Nägel schneidet, also sammelt sich dort munter der Dreck von Wochen...
Viele Kinder haben auch Krätze, Läuse etc. Wenn man sich die Verhältnisse im Barrio anguckt, ist das kein Wunder.
Trotz alledem ist die Mehrheit der Kinder sehr fröhlich. Beim täglichen Basteln wird viel gelacht, es kommt oft zu Situationen, in denen einer oder mehrere der Kinder singen oder tanzen und die anderen in einem Kreis drumherumstehen und mitklatschen. Das sind jedes Mal kleine Highlights meiner Arbeit.
Mit einem Mädchen, das mich bisher immer nur etwas verstörend angegrinst hat, habe ich mich gestern das erste Mal unterhalten, was für mich ein kleiner persönlicher Erfolg war. Langsam verstehe ich die Kinder immer besser und kann mich auch besser mit ihnen unterhalten. Alles fügt sich zusammen und entwickelt sich.
Zu den Jugendlichen habe ich auch schon ein richtig freundschaftliches Verhältnis entwickelt und ich versuche im Moment herauszufinden, was ihnen gefällt und Spaß macht und welches Angebot ich am besten anbieten werde. Die Theatergruppe mit kombiniertem Englischkurs wäre auf jeden Fall ein ehrgeiziges Projekt, sehr schwer zu verwirklichen, weil die Jugendlichen trotz Englischunterricht in der Schule oft kein einziges Wort sprechen und sich auch nicht sonderlich dafür interessieren. Außerdem haben sie Hemmungen, was für das Theater hinderlich ist. Trotzdem gebe ich nicht so schnell auf und werde es wenigstens versuchen, spielerisch und mit kleinen Schritten.
Gestern und heute haben mich Mädchen (17 und 13) gefragt, ob es in Deutschland auch so viele arme Leute wie hier gibt. Ich habe jedes Mal verneint und erklärt, dass in Deutschland das System der Sozialhilfe greift, so dass auch Arbeitslose etc. vom Geld vom Staat leben können.
Die beiden konnten sich kaum vorstellen, dass es in Deutschland keine Gegenden gibt, in denen vergleichbare Verhältnisse wie in den armen Barrios herrschen, keine "Villas" etc. Die ältere von beiden hatte im Fernsehen schon Bilder von Deutschland gesehen und mir gesagt, wie schön und reich alles ausgesehen hat. Sie hat mich außerdem gefragt, ob es in Deutschland auch viele Alkoholiker gebe, woraufhin ich antwortete, dass das sein könne, ich aber niemanden kenne. Daraufhin erwiderte sie, dass es dann wenige sein müssten, denn sie kenne sehr viele.
Was wieder daraufhinweisen würde, dass die Lebensumstände die Menschen bestimmen. Da muss ich Marx doch Recht geben muss: Das Sein bestimmt das Bewusstsein.
Oft frage ich mich, wie ich denken und handeln würde, wäre ich dort geboren. Wären meine Ziele die gleichen wie jetzt? Wäre meine Einstellung die gleiche? Und wenn ja, hätte ich die gleichen Chancen, die ich jetzt habe? Die letzte Frage war rhetorisch. Das ist bitter. Ich habe es vor allem meiner Herkunft zu verdanken, dass ich zur Schule gehen konnte, so lange ich wollte, jetzt hier bin und danach studieren kann um eines Tages das zu arbeiten, was mir gefällt.
Wie würde mein Leben aussehen, wäre ich eines der Kinder aus dem Barrio gewesen?
Höchstwahrscheinlich hätte ich schon Kinder oder wäre zumindest schon schwanger. Von meinen 3 jungen Kolleginen, die in meinem Alter sind, hat eine schon 2 Kinder und die beiden anderen jeweils eins. Die Psychologin, die zweimal die Woche im Centro arbeitet, hat mir gesagt, dass viele Mädchen so ihre Freunde an sich binden, aus Angst, sonst verlassen zu werden.
Außerdem bedeutet ein Kind eine Aufgabe, einen Lebensinhalt, der vielen sonst fehlt. Ein Kind gibt deinem Leben eine Bedeutung, eine Wichtigkeit.

Die Prioritäten der Menschen im Barrio unterscheiden sich von meinen. Obwohl sie kaum genug Geld für Essen und Kleidung haben, geben sie ihr Geld z.B. für Handys aus, von denen sie total begeistert sind. Alle meiner Mitarbeiterinnen haben Fotohandys, mit denen sie mir Bilder ihrer Familie und von Jesus (!) zeigen. Eine von ihnen hat sich vor ein paar Tagen ein neues Sony Ericsson Walkman Handy für 1400 Pesos (fast 300 Euro!) gekauft. Sie bezahlt in 6 Monatsraten. Sie trägt fast immer die gleiche Kleidung und klagt oft darüber, dass ihr das Geld für dieses oder jenes fehlt. Das kann ich wirklich nicht verstehen. Aber sie ist sehr glücklich über dieses Handy, gibt überall damit an (sie ist schon mindestens 40!), wir hören damit Musik bei unserer Materunde und sie ist ständig am Telefonieren oder simsen.

Auch gehen die Menschen hier sehr verschwenderisch mit Wasser um, der Wasserhahn läuft fast ständig, was ich gar nicht ertragen kann und ihn deshalb regelmäßig abdrehe. Das Wasser ist kontaminiert und kann wirklich üble Bauchschmerzen verursachen.

Komme ich nun von den Menschen zu den Hunden. Es ist grauenhaft, besonders für mich als Nicht-Hundefreund. im Centro laufen immer mindestens 7 Hunde rum (ich habe gezählt ;)), die ständig ins Haus laufen, sich die ganze Zeit kratzen, um Essen betteln, miteinander kämpfen etc.
Die Leute sind an sie gewöhnt, für mich ist das seltsam. Teilweise gehen die Jugendlichen echt schlimm mit ihnen um. Der Sohn meiner Chefin hat letztens mit einem Besen ausgeholt und mit voller Wucht auf einen Hund geschlagen, was mir sehr leid tat, obwohl ich an sich von den Hunden nicht angetan bin. Andererseits bekommen die Hunde die Essensreste und werden akzeptiert. Es herrscht ein stilles Einvernehmen zwischen Menschen und Hunden.

Abschließen möchte ich heute mit etwas, was ich vor kurzem auf Zeit. de gelesen habe.
Es ging um Kulturrelativismus und die Autorin kritisierte extreme Kulturrelativisten, die das Missachten von Menschenrechten auf eben diesen Kulturrelativismus zurückführen.
Dies sei unmenschlich, sagte sie und ich muss ihr da zustimmen. Menschenrechte sind keine Erfindung des Westens, meiner Meinung nach sind sie universell. Die Menschen hier haben die gleichen Empfindungen wie wir, sie haben Hunger und wollen essen, sie frieren und wollen gewärmt werden, sie wollen würdig leben, sie leiden unter Gewalt. Die Menschenrechte werden hier verletzt und der Westen, wir, können das nicht einfach als Kulturrelativismus abtun, denn das hat nichts mit der argentinischen Kultur zu tun. Ich weiß bisher noch zu wenig über die Ursachen dieser Armut, um sagen zu können, woher sie kommt und vor allem, wie sie bekämpft werden kann. Die Militärdiktatur z.B. hat die Wirtschaft geschwächt. Die Globalisierung tut ihr übriges.
Das Land befindet sich, besonders nach der Krise 2001, in einer schwierigen Phase der Konsolidierung. Dazu bald mehr.