Freitag, 11. September 2009

Von Menschen und Hunden

Ich habe schon länger nicht mehr geschrieben, was davon zeugt, dass ich wenig Zeit bzw. Freizeit habe und diese dann entsprechend vollgepackt ist mit den Dingen, die ich mir vorgenommen hatte zu tun, allen vorweg Sport und Bildung bzw. Weiterbildung in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Geschichte.
Ich bin ganz zufrieden mit mir, denn immerhin gehe ich mindestens zweimal die Woche ins Fitnessstudio am Park von Varela, mache Aerobic oder trainieren an den Geräten und lese fast jeden Tag in meinem schlauen Buch oder im Internet um wenigstens etwas auf dem neusten Stand zu bleiben und zu erfahren, was in der Welt so passiert.
In meiner Welt hier passiert doch so einiges. Aber vor allem merke ich, wie langsam Routine und Alltag in mein Leben zieht, was beruhigend ist, weil einem so alles leichter von der Hand geht und nicht mehr alles ganz so neu erscheint.
Inzwischen habe ich mich gewöhnt an die tägliche Busfahrt ins Projekt, die wie eine Zeitreise erscheint. Der Colectivo 500 (3 Bosques) bringt mich jeden Tag in eine andere Welt. Ich steige ein und alles erscheint "normal", ähnlich wie in Europa: Geteerte Straßen, Autos, normale Häuser, Geschäfte....Ich fahre und nach etwa 15 Minuten verändert sich das Bild allmählich. Der Müll am Straßenrand häuft sich, die Häuser werden kleiner, ihr Material verändert sich, sie sind halb offen, bestehen nur aus ein paar Steinen oder Holzbrettern, am Straßenrand verlaufen Gräben, in denen Abwasser und Müll schwimmt, überall laufen Hunde herum, die erbärmlich aussehen.
Ja, das habe ich alles schon berichtet aber ich kann das nicht oft genug erzählen, denn es begleitet mich jeden Tag. Jeden Tag verbringe ich 7 Stunden in dieser Umgebung und lerne die Menschen kennen, die ihr ganzes Leben dort wohnen. Ohne warmes Wasser. Ohne Klospülung. Ohne Föhn (ja, das erscheint nicht so wichtig aber meine Mädchen im Projekt kommen jeden Tag bei den Temperaturen im Moment mit nassen Haaren!), Ohne Heizung. Ohne Isolierung. (Die beiden Dinge gibt es selbst in unserer Wohnung nicht bzw. kaum). Ohne Privatssphäre.
Ich könnte noch viele Dinge mehr aufzählen, aber ich möchte nicht melodramatisch werden.

Auch in meinem Projekt, das im Vergleich zu anderen noch relativ gut ausgestattet ist, mangelt es an vielem. Auch wir haben kein warmes Wasser, spülen also jeden Tag das ganze Geschirr mit kaltem Wasser, was in Hinblick auf Hygiene nicht gerade beruhigend ist. Für Obst und Gemüse ist kaum Geld da, für die etwa 20-25 Jugendlichen, die jeden Abend dort essen, gibt es immer etwa 2 Möhren, eine Paprika und 8 Zwiebeln. Dafür aber fast immer Fleisch, das ist hier spottbillig.

Ich habe die Kinder und Jugendlichen aus dem Centro, aber auch meine Mitarbeiterinnen, schon sehr ins Herz geschlossen und weiß jetzt schon, dass es schwer wird, sie wieder zu verlassen.

Die Kinder sind alle so süß. Ich merke, wie sie auch mir gegenüber immer offener werden und es freut mich, diese Entwicklung zu verfolgen.
Sie kommen jeden Tag um 5 zur Merienda. Dafür bilden sie vor der Tür eine Schlange, jeweils 3 von ihnen kriegen von Romy, einer Mitarbeiterin in meinem Alter Seife in die Hand und gehen ins Bad, wo sie sich die Hände waschen. Danach bekommen sie von mir das Essen (Kuchen, Brot oder Löffelbiscuit) und einen Becher Tee.
Beim Betreuen des Händewaschens fällt mir oft auf, wie vernarbt die Händer der Kinder teilweise sind, von verdreckt mal ganz abgesehen. Die meisten von ihnen haben keine Mutter, die ihnen regelmäßig die Nägel schneidet, also sammelt sich dort munter der Dreck von Wochen...
Viele Kinder haben auch Krätze, Läuse etc. Wenn man sich die Verhältnisse im Barrio anguckt, ist das kein Wunder.
Trotz alledem ist die Mehrheit der Kinder sehr fröhlich. Beim täglichen Basteln wird viel gelacht, es kommt oft zu Situationen, in denen einer oder mehrere der Kinder singen oder tanzen und die anderen in einem Kreis drumherumstehen und mitklatschen. Das sind jedes Mal kleine Highlights meiner Arbeit.
Mit einem Mädchen, das mich bisher immer nur etwas verstörend angegrinst hat, habe ich mich gestern das erste Mal unterhalten, was für mich ein kleiner persönlicher Erfolg war. Langsam verstehe ich die Kinder immer besser und kann mich auch besser mit ihnen unterhalten. Alles fügt sich zusammen und entwickelt sich.
Zu den Jugendlichen habe ich auch schon ein richtig freundschaftliches Verhältnis entwickelt und ich versuche im Moment herauszufinden, was ihnen gefällt und Spaß macht und welches Angebot ich am besten anbieten werde. Die Theatergruppe mit kombiniertem Englischkurs wäre auf jeden Fall ein ehrgeiziges Projekt, sehr schwer zu verwirklichen, weil die Jugendlichen trotz Englischunterricht in der Schule oft kein einziges Wort sprechen und sich auch nicht sonderlich dafür interessieren. Außerdem haben sie Hemmungen, was für das Theater hinderlich ist. Trotzdem gebe ich nicht so schnell auf und werde es wenigstens versuchen, spielerisch und mit kleinen Schritten.
Gestern und heute haben mich Mädchen (17 und 13) gefragt, ob es in Deutschland auch so viele arme Leute wie hier gibt. Ich habe jedes Mal verneint und erklärt, dass in Deutschland das System der Sozialhilfe greift, so dass auch Arbeitslose etc. vom Geld vom Staat leben können.
Die beiden konnten sich kaum vorstellen, dass es in Deutschland keine Gegenden gibt, in denen vergleichbare Verhältnisse wie in den armen Barrios herrschen, keine "Villas" etc. Die ältere von beiden hatte im Fernsehen schon Bilder von Deutschland gesehen und mir gesagt, wie schön und reich alles ausgesehen hat. Sie hat mich außerdem gefragt, ob es in Deutschland auch viele Alkoholiker gebe, woraufhin ich antwortete, dass das sein könne, ich aber niemanden kenne. Daraufhin erwiderte sie, dass es dann wenige sein müssten, denn sie kenne sehr viele.
Was wieder daraufhinweisen würde, dass die Lebensumstände die Menschen bestimmen. Da muss ich Marx doch Recht geben muss: Das Sein bestimmt das Bewusstsein.
Oft frage ich mich, wie ich denken und handeln würde, wäre ich dort geboren. Wären meine Ziele die gleichen wie jetzt? Wäre meine Einstellung die gleiche? Und wenn ja, hätte ich die gleichen Chancen, die ich jetzt habe? Die letzte Frage war rhetorisch. Das ist bitter. Ich habe es vor allem meiner Herkunft zu verdanken, dass ich zur Schule gehen konnte, so lange ich wollte, jetzt hier bin und danach studieren kann um eines Tages das zu arbeiten, was mir gefällt.
Wie würde mein Leben aussehen, wäre ich eines der Kinder aus dem Barrio gewesen?
Höchstwahrscheinlich hätte ich schon Kinder oder wäre zumindest schon schwanger. Von meinen 3 jungen Kolleginen, die in meinem Alter sind, hat eine schon 2 Kinder und die beiden anderen jeweils eins. Die Psychologin, die zweimal die Woche im Centro arbeitet, hat mir gesagt, dass viele Mädchen so ihre Freunde an sich binden, aus Angst, sonst verlassen zu werden.
Außerdem bedeutet ein Kind eine Aufgabe, einen Lebensinhalt, der vielen sonst fehlt. Ein Kind gibt deinem Leben eine Bedeutung, eine Wichtigkeit.

Die Prioritäten der Menschen im Barrio unterscheiden sich von meinen. Obwohl sie kaum genug Geld für Essen und Kleidung haben, geben sie ihr Geld z.B. für Handys aus, von denen sie total begeistert sind. Alle meiner Mitarbeiterinnen haben Fotohandys, mit denen sie mir Bilder ihrer Familie und von Jesus (!) zeigen. Eine von ihnen hat sich vor ein paar Tagen ein neues Sony Ericsson Walkman Handy für 1400 Pesos (fast 300 Euro!) gekauft. Sie bezahlt in 6 Monatsraten. Sie trägt fast immer die gleiche Kleidung und klagt oft darüber, dass ihr das Geld für dieses oder jenes fehlt. Das kann ich wirklich nicht verstehen. Aber sie ist sehr glücklich über dieses Handy, gibt überall damit an (sie ist schon mindestens 40!), wir hören damit Musik bei unserer Materunde und sie ist ständig am Telefonieren oder simsen.

Auch gehen die Menschen hier sehr verschwenderisch mit Wasser um, der Wasserhahn läuft fast ständig, was ich gar nicht ertragen kann und ihn deshalb regelmäßig abdrehe. Das Wasser ist kontaminiert und kann wirklich üble Bauchschmerzen verursachen.

Komme ich nun von den Menschen zu den Hunden. Es ist grauenhaft, besonders für mich als Nicht-Hundefreund. im Centro laufen immer mindestens 7 Hunde rum (ich habe gezählt ;)), die ständig ins Haus laufen, sich die ganze Zeit kratzen, um Essen betteln, miteinander kämpfen etc.
Die Leute sind an sie gewöhnt, für mich ist das seltsam. Teilweise gehen die Jugendlichen echt schlimm mit ihnen um. Der Sohn meiner Chefin hat letztens mit einem Besen ausgeholt und mit voller Wucht auf einen Hund geschlagen, was mir sehr leid tat, obwohl ich an sich von den Hunden nicht angetan bin. Andererseits bekommen die Hunde die Essensreste und werden akzeptiert. Es herrscht ein stilles Einvernehmen zwischen Menschen und Hunden.

Abschließen möchte ich heute mit etwas, was ich vor kurzem auf Zeit. de gelesen habe.
Es ging um Kulturrelativismus und die Autorin kritisierte extreme Kulturrelativisten, die das Missachten von Menschenrechten auf eben diesen Kulturrelativismus zurückführen.
Dies sei unmenschlich, sagte sie und ich muss ihr da zustimmen. Menschenrechte sind keine Erfindung des Westens, meiner Meinung nach sind sie universell. Die Menschen hier haben die gleichen Empfindungen wie wir, sie haben Hunger und wollen essen, sie frieren und wollen gewärmt werden, sie wollen würdig leben, sie leiden unter Gewalt. Die Menschenrechte werden hier verletzt und der Westen, wir, können das nicht einfach als Kulturrelativismus abtun, denn das hat nichts mit der argentinischen Kultur zu tun. Ich weiß bisher noch zu wenig über die Ursachen dieser Armut, um sagen zu können, woher sie kommt und vor allem, wie sie bekämpft werden kann. Die Militärdiktatur z.B. hat die Wirtschaft geschwächt. Die Globalisierung tut ihr übriges.
Das Land befindet sich, besonders nach der Krise 2001, in einer schwierigen Phase der Konsolidierung. Dazu bald mehr.

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