Mittwoch, 23. Dezember 2009

Sittenverfall - Deutsche feiern orientalische Weihnacht in Argentinien

Klingt nach Bild, stimmt aber wirklich.
Auf dem Speiseplan für Heiligabend steht Melone mit Parmaschinken, Griechischer Salat, geschmortes Lamm mit Paprikacouscous und Himbeerschichtspeise. Das wird ein Fest!

Bei so viel leckerem Essen wird die Trauer über die Abwesenheit der Familie vielleicht ein bisschen unterdrückt. Weihnachten bei schwülen 30 Grad hatte ich auf jeden Fall noch nie. Ganz ehrlich sehne ich mich ein bisschen nach dem kalten Deutschland. Denn Weihnachten gehört für mich zu Kälte. Diese Hitze hier hat da nichts verloren.

Was habe ich die letzten Tage so getrieben? Da ich 3 Tage aufarbeiten musste, damit ich mir für Besuch ein bisschen frei nehmen kann, habe ich in der Casa Abierta, dem Haupthaus des Centro Angelelli, gearbeitet. Am Montag habe ich die Kinder der Frauen, die sich wegen häuslicher Gewalt beraten lassen, gehütet. Es war die Hölle, weil die Rotzbengel schlecht erzogen waren und die ganze Zeit weggerannt sind, so dass ich wie eine Blöde sie die ganze Zeit suchen musste. Ich alleine mit 7 kleinen Kindern, das war eine echte Herausforderung. Die Hitze hat es nicht besser gemacht.
Dienstag Asado mit den Leuten von Caritas, dann ging es daran, einen Weihnachtsbaum aus Stoff zu basteln, für die Weihnachtsfeier heute, und dann die Geschenke für die Frauen, die zum Gewalt-Taller kommen, und ihre Kinder einzupacken.
Nach 7 Stunden wurde ich quasi rausgeschmissen, damit ich mich entspanne, um heute Morgen nach Capital zu fahren (2 Stunden eine Fahrt!)und Rechnungen abzugeben und dafür Schecks entgegegn zu nehmen.
Nach dieser Odyssee hatte ich dann heute Nachmittag endlich ein bisschen Zeit, um mein Wichtelgeschenk zu besorgen. Wir haben ja unter uns 4 Mädels gewichtelt. Morgen ist es dann so weit. Ich schwitze immer noch, dabei ist es schon halb 12 nachts.
Ich hasse es. Ich bin einfach kein Hitzemensch. Vor allem kein Freund der feuchten Hitze hier.

Hauptsache, unsere orientalische Weihnacht, die wir Deutschen morgen in Argentinien feiern, gelingt!

Also meine Lieben. Ich wünsche euch allen von ganzem Herzen wunderschöne Weihnachten. Ich wünsche euch, dass ihr es mit den Menschen verbringen könnt, die euch wichtig sind, dass ihr es in Frieden verbringt und mit froher Hoffnung auf das kommende Jahr.
Was mich betrifft, ich feiere dieses Jahr zwar das erste Mal nicht mit meiner Familie, auch nicht mit meinen Freunden von zu Hause. Aber ich feiere mit neuen Freunden. Mit Lisa, Anna, Laura, Hendrik und Gabriel. Menschen, die mich in meinem Leben hier von Anfang an begleitet haben, und die hier also wie meine Familie sind.
Also freue ich mich auf unser Fest morgen, auch wenn ich meine Familie und Freunde vermissen werde.

Feliz Navidad!

Freitag, 18. Dezember 2009

Ein Tag im Freibad. Fazit: Ein kleiner Sonnenbrand, ein kleiner Hund und viele kleine Kinder

Heute ein paar Worte aus dem Locutorio (Internetcafe) von nebenan (daher auch der Mangel an Umlauten, scharfem s etc.).

Der Tag war echt schoen! Wir waren mit allen vier Zentren im Freibad, haben geschwommen, Ball gespielt, gegrillt und gegessen, in der Sonne gelegen (die meiste Zeit aber doch eher im Schatten) und das Jahresende gebuehrend gefeiert.

Einigen Kindern habe ich ein paar Schwimmzuege beigebracht, denn nur etwa die Haelfte der Kinder kann schwimmen. Wir hatten auf jeden Fall einen Heidenspass, haben herumgeplanscht und das gute Wetter genossen.

Dann hat Anna 3 kleine Babyhunde entdeckt und sich kurzerhand entschlossen, den kleinsten und schwaechsten (Lisa behauptet auch: den haesslichsten) mit nach Hause zu nehmen, um ihn aufzupaeppeln. Gesagt, getan, momentan muesste er sich schon ein Haus weiter im ersten Stock, Wohnung 2 befinden...ich bin gespannt, ob sie ihn flofrei und stubenrein kriegt. Die arme Lisa ist auf jeden Fall ein bisschen besorgt..

Ab Montag arbeite ich noch 3 Tage in anderen Projekten, um die Ferien, die ich mir mit meinem Besuch nehme, zu kompensieren. Aber ich freue mich darauf, bin gespannt, welche neuen Einblicke mir diese Arbeit geben wird. Und danach habe ich einen Monat frei :)
Ich werde mit Pia und einer Freundin nach Mendoza, dann nach Santiago de Chile, Valparaiso, San Felipe und dann nach La Serena fahren; von dort aus dann in den Norden Argentiniens nach Salta und Juyjuy und dann zum Seminar nach Misiones. Bin schon sehr gespannt!

Ahora me voy, muss noch in unsere Stammbar und auf die Ferien anstossen!

Ich denke an euch, die ihr in Deutschland friert, waehrend ich mit einem klein wenig Sonnenbrand meinen Cocktail schluerfe. Celebra la vida! Das sage ich dazu!

Hasta pronto, amigos!

Eure sehr gut gelaunte Laura!

Donnerstag, 17. Dezember 2009

Mein Projekt




Stress und Ferien

So groß angekündigt und dann noch nicht mal was berichtet. Tz tz. Lo siento!
Wie ihr auf den Fotos sehen könnt, war Mar del Plata toll! Und das Wetter auch. Die Wohnung war super zentral, wir haben viel gesehen, Zeit am Strand verbracht, haben gekocht, waren im Casino (wo Lisa mit 2 Peso Einsatz am Automaten 150 Pesos gewonnen hat!), waren essen und auch einmal feiern. Ein rumdum gelungener Kurztrip!

Kaum zurück hat mich aber dann schon wieder der Stress eingeholt. Naja, selbstgemacht, irgendwie. Da ich mich am Wochenende entschlossen habe, mich doch in Nancy für den Studiengang Sciences Po zu bewerben, muss ich jetzt eine sehr aufwändige Bewerbung auf mich nehmen. Da ich die letzten zehn Tage aber jeden Tag etwas gemacht habe, bin ich schon fast fertig und so viel war es dann doch nicht.

Dementsprechend waren meine letzten Wochen sehr voll und da wir kein Internet mehr in der Wohnung haben, hat sich das ganze noch ein wenig mehr kompliziert. So wohne ich jetzt so halb bei Lisa und Anna, die mich netterweise ihr Internet mitbenutzen lassen.

Heute war außerdem mein letzter Tag im Projekt vor den Ferien. Morgen gehen alle Zentren zusammen ins Freibad, um das Jahresende zu feiern.

Als ich mich heute von allen verabschiedet habe, ist mir wieder einmal aufgefallen, wie sehr ich mich mit allen aus dem Projekt, sowohl Jugendliche, als auch Mitarbeiter angefreundet habe, wie selbstverständlich ich mittlerweile Teil des Teams bin und wie komisch es sein wird, sich zu verabschieden mit dem Wissen, vielleicht nie mehr wieder zu kommen. Wenn ich groß bin und einmal viel Geld verdienen sollte, weiß ich auf jeden Fall, wohin ich es spenden werde. Mein Projekt ist einfach toll!
Heute habe ich den Jugendlichen dieses Fadenspiel beigebracht, bei dem man zu zweit sich immer gegenseitig den Faden von den Händen nimmt. Schwer zu erklären, ich denke, viele von euch kennen das. Kam auf jeden Fall super an und sie haben es die ganze Zeit gespielt.

Damit ihr euch ein noch besseres Bild von meinem Projekt machen könnt, lade ich im nächsten blog ein paar Fotos hoch.

Wünsche euch allen eine schöne Weihnachtszeit! Ich schwitze hier bei 30 Grad..
Eure Laura!

Dienstag, 15. Dezember 2009

Freitag, 4. Dezember 2009

Auf ans Meer!

Es ist soweit: Nach über 4 Monaten in Argentinien, fahre ich morgen zum ersten Mal ans Meer! So richtig freuen kann ich mich erst jetzt, weil ich vorher so eingespannt im Projekt war, an so viele andere Dinge denken musste...
Morgen geht es also nach Mar del Plata, ca. 380 km von hier entfernt. Merle, Fenja, eine Freundin der beiden, Christoph, Lisa und ich haben uns eine Ferienwohnung von Bekannten von Fenjas Gastfamilie gemietet und werden dort das lange Wochenende bis Dienstag verbringen. Obwohl die Wettervorhersage nicht die beste ist und eigentlich nicht dem Dezember hier entspricht (nur 22 Grad), freue ich mich auf ein bisschen Luftveränderung. Mal wieder hier herauskommen, den Kopf frei kriegen, Meer, Strand, eine Runde Entspannen...das wird sicher toll!
Allerdings habe ich natürlich noch nicht gepackt, so kennt man mich, und morgen um 8 geht es schon los.
Also wünsche ich euch ein schönes Nikolauswochenende, meins ist dieses Jahr so gar nicht von Weihnachtsstimmung geprägt.
Schreibt doch mal einen Kommentar oder schickt mir eine Mail!
Saludos, Laura

Un dia raro

Gestern war ein dia raro, ein seltsamer Tag. Es war der Geburtstag von Samanta, einem Mädchen aus dem Zentrum. Außerdem der Hochzeitstag meiner Chefin. Und es war der erste Todestag eines Jungen aus dem Centro. Er starb vor einem Tag, indem er nass vom Pool einen alten Kühlschrank öffnete und damit eine Explosion auslöste. Nach fast einem Monat im Krankenhaus erlag er schließlich seinen Verletzungen. Er war ein sehr enger Freund vieler meiner Jungs im Zentrum.
Die Stimmung gestern war gedrückt. Ob sie es wollten oder nicht, wurden alle wieder an diesen Tag vor einem Jahr erinnert, an dem sie die Nachricht erhielten. Ich kannte ihn nicht, trotzdem musste ich auch die ganze Zeit daran denken, wie sinnlos und traurig es ist, wenn ein 13-jähriger gesunder Junge stirbt.
Nach dem Abendessen kam der befreundete Pfarrer, um mit denjenigen, die bleiben wollten, eine kleine Trauerfeier abzuhalten. Er sprach ein paar Worte, las aus der Bibel, teilte Kerzen aus und wir teilten zusammen diesen Moment, der auch mich auf der anderen Seite sehr traurig machte, weil ich die Gesichter meiner Jungs sah, in denen der Schmerz über den Verlust ihres Freundes geschrieben stand, andererseits aber auch dankbar darüber, dass ich bisher noch nie einen Menschen, der mir wirklich nahe stand, verloren habe.

Mittwoch, 2. Dezember 2009

Ein Gespenst geht um in Argentinien...

Gestern las ich in unserem Boletin Voluntariado (der Zeitschrift für uns Freiwillige) diesen Artikel eines Pfarrers der Iglesia Evangeliga del Rio de la Plata, Arturo Blatezky, der für die Menschenrechtsorganisation MEDH arbeitet. Während unseres Einführungsseminars habe ich ihn bereits kennen gelernt und wurde Zeugin seiner unglaublichen Allgemeinbildung und seines Engagement für die Ärmsten der Armen hier in Argentinien. Es lohnt sich wirklich, diesen Artikel zu lesen, denn er erzählt von nichts anderem als der Wirklichkeit hier - eine teilweise so grausame Wirklichkeit, dass es mir manchmal sehr schwer fällt, meine positive Einstellung angesichts all dem, was ich hier täglich erfahre, zu bewahren.

EIN GESPENST GEHT UM IN ARGENTINIEN - DAS GESPENST DER UNSICHERHEIT...

Macri – De Narvaez & Co.: „Die unpolitischen Unternehmer-Politiker“
[…] ¿Wie sieht die „Schaffung von Sicherheit für die anständigen Bürger“ durch Bürgermeister Macri in der Stadt Buenos Aires aus? Das beste Beispiel ist ohne Zweifel die Schaffung der UCEP-Brigade, der „Einheit für die Kontrolle der Allgemeinen Öffentlichkeit“.
Konkret besteht diese Massnahme darin, dass eine –geheime- Gruppe von zivilen Stadtangestellten eingestellt wurden, die nachts durch die ärmeren und verborgenen Gegenden der Stadt Buenos Aires in Privatwagen patrouilliert um Bettler und Homeless, die zu Hunderten unter den Brücken der Autobahnen, Vordächer o.ä. zu übernachten versuchen, mittels mehr oder weniger eindeutiger, leichterer oder schwerer Gewalt vertreiben. Diese Aktionen der UCEP-Brigade gingen so weit, dass selbst der Oberkommissar der für die Stadt zuständige Staatspolizei sich von ihnen distanzierte und abstritt, etwas damit zu tun zu haben. Aber das ändert nichts daran, dass das Macri-Dekret besteht und die UCEP in ihrer Handlungsfreiheit sogar ausdrücklich ausgeweitet wurde. Ihr offizielles Büro und Handlungsbasis ist […] im Zentrum von Buenos Aires und ihre Aktionen werden öfters mit LKW´s der privaten Müllversorgung der Stadt begleitet und unterstützt. Ebenso wie von privaten PKW´s in denen jeweils mehrere große, athletisch gebaute Männer mitfahren, die sich alle durch schwarze Uniformen auszeichnen.

Wir begleiten und zeigen diese gewalttätigen Übergriffe von staatlich-angestellten illegalen Schlägerbanden seit einiger Zeit gemeinsam mit der katholischen Gemeinde der Klaretianer von Constitución an, dem wichtigsten Endbahnhof der Züge, die aus Patagonien und dem Süden einlaufen.
Ein guter Freund, Pfarrer Jorge Alonso hat vor Gericht folgendes ausgesagt:
“Es war etwa um 12 Uhr nachts als ich von der Strasse –von unterhalb der Autobahn her- Schreie hörte. Es war ein mir sehr gut bekannter Mann, der seit einiger Zeit neben der Mauer unserer Gemeinde übernachtet und manchmal kommt um Essen, Mate-Tee, Zucker o.ä. zu verlangen. Ich schaute aus dem Fenster und bemerkte etwa 18 bis 20 junge Männer, alle in schwarzer Uniform, die auf den Mann zuredeten. Dann stiegen sie in ihre Autos und fuhren weg. Am nächsten Tag kam der Mann zu mir und erzählte, sie hätten ihn bedroht, er solle machen dass er dort wegkäme. Der (66. jährige) Mann war sehr verängstigt und sprach nur davon, dass sie ihm damit gedroht hatten, nächstes Mal würden sie ihn wegprügeln.
Es ist genauso, wie es unser Kardinal Bergoglio immer wieder sagt: Die Menschen sind für die Regierung dieser Stadt überflüssig, man kann sie behandeln wie Wegwerfmüll. […]


Die wahren Opfer der “Unsicherheit der kapitalistischen Gesellschaft”

Carlitos – 14 Jahre

Wenige Dinge haben mich in meinem Leben so bewegt wie die Beerdigung des 14. jährigen Carlitos.
Carlitos lebte mit seiner Familia wie die anderen 45 bis 50 Tausend Menschen im Elendsviertel “Villa Itatí” in âusserster Armut. Er sammelte zusammen mit seiner Schwester und seinen Eltern Papier, Pappe, Flaschen und was sonst im Müll noch wiederverwertbar ist. Gleichzeitig besuchte er die nahe gelegene Abendschule.
Ein Leben wie das der anderen Jungen seines Alters in “Villa Itatí”. Auch sein Tod war ein Tod wie viele andere alltägliche Tode in “Villa Itatí” und den anderen Elendsvierteln des Armengürtels um Buenos Aires.

An einem heissen Herbstsonntag im April spielte Carlitos barfuss und nur mit Shorts bekleidet Fussball auf dem freien Platz zwischen den beiden Spuren der Autobahn die “Villa Itatí” von “Villa Azul” trennt.
In der Halbzeit gab ein Zuschauer Carlitos Geld um im nahen Kiosk für die Spieler eine Cola zu kaufen.
Als Carlitos vor dem Kiosk stand hielt ein Auto plötzlich an, ein Mann stieg aus und schoss ihm ohne ein Wort zu sagen aus nächster Nähe 2 Kugeln in den Hinterkopf.
Als die Zuschauer des Spieles die kurze Strecke gelaufen kamen war Carlitos schon tot: Der Mann gab sich als Polizist außer Dienst zu erkennen und entschuldigte sich damit dass “er meinte den Jungen vor kurzem bei einem Überfall gesehen zu haben, aber er könne sich irren, da die ja alle gleich aussehen...”
Als die entsetzten und wütenden Nachbarn und Zuschauer begannen auf den Mann einzuschlagen und sein Auto umzustürzen versuchten, war die Polizei gleich zur Stelle, da ja der Krater, den “Villa Itatí” bildet bei Tag und Nacht von Streifenwagen umgeben ist. Die Polizei jagte die Menschen mit Gewalt auseinander.
Als nach längerer Zeit ein Wagen des zuständigen Kommissariats eintraf und damit begann, den Toten zu untersuchen, bemerkten die Familie und Nachbarn, wie unter dem Toten ein Revolver hervorgeholt wurde, den Carlitos nie –halbnackt, wie er war- bei sich gehabt haben könnte. Es war wieder einmal die unter uns alltägliche übliche Art und Weise, das Opfer zu beschuldigen um den Täter zu entlasten.
Der Polizeioffizier wurde schon am nächsten Tag entlassen ohne weiter von der Justiz verfolgt zu werden.

Für mich war die Beisetzung von Carlitos nicht nur wegen des unbeschreiblichen und ungesühnten Mordes einzigartig: Da seine Familie in einer kleinen Holzhütte lebt, in der unmöglich auch nur ein kleiner Sarg Platz findet (Carlitos war für sein Alter klein gewachsen), fand seine Aufbahrung und Trauerfeier am Rande der Autobahn statt, so dass unentwegt Fernbusse, Laster und Autos an uns vorbeirasten. Auch die Pferdchen von etwa 50 Wägelchen, die mit ihren jeweiligen Papiersammlerfamilien dabeistanden, sorgten nicht gerade für Stille und Besinnlichkeit: Es wäre sicher auch eine Zumutung gewesen, von diesen Menschen angesichts des ebenso grauenhaften wie zynischen und maßlos aufreizenden Mordes an einem kleinen Jungen, der einer der ihren war und den sie aufwachsen sahen, so etwas wie Stille und Besinnlichkeit zu erwarten.
Der Zug zum Friedhof wurde für mich zum unvergesslichen Erlebnis: Ich saß mit den Angehörigen auf einem der mindestens 50 wie Schilfboote inmitten des Grosstadtverkehrs unsicher schaukelnden und holpernden Wägelchen mit ihren kleinen Pferdchen, im Talar die riesigen Busse und LKW´s wie Ozeanriesen beachtend, die an uns vorbeirauschten: Die Welt aus einer ganz anderen Perspektive, ganz von unten, ganz von den Kleinen aus, ganz aus der Unsicherheit derer heraus, die man straflos sowohl erschießen wie anrempeln und umstürzen kann.

Von der Beerdigung selbst erinnere ich nur den Anblick der wohl über 50 Wagen und Pferdchen, die alle in den Friedhof hinein- und so nahe ans Grab fuhren, dass sie im Gewimmel etwas sehen und hören konnten.
Und fast an jedem Wagen handgemalte Plakate, die sicherlich die eigentliche und entscheidende Ansprache und Predigt waren. Auf dem rechten Foto sieht man eines dieser Plakate mit dem ebenso berechtigten wie verzweifelten und zur Sprachlosigkeit zwingenden Aufschrei: “SCHLUSS MIT DEM MORD AN DEN UNSCHULDIGEN!”


Diego-16 J., Elias-15 J., Miguel-17 J., Manuel-17 J.


Es ist leicht berichtet aber fast nicht zu glauben, was in der Nacht vom 20 Oktober 2004 in der zentralen und wichtigsten Polizeistation in der Innenstadt von Quilmes geschehen ist.
17 Minderjährige warteten –z.T. seit Monaten- darauf, von der Jugendjustiz in ein Entziehungsheim für Rauschgiftabhängige überführt zu werden. Die Prozedur ist ebenfalls so einfach wie unglaublich: Da es sich allesamt um arme Minderjährige handelte, deren Familie keine Entziehungskur bezahlen können, müssen sich die Minderjährigen selbst dem Richter stellen und sich selbst als Gesetzesbrecher anklagen, da sie nur so auf Staatskosten eingeliefert werden können. Da Rauschgiftkonsum aber eine strafbare Handlung ist, wurden sie augenblicklich als Delinquenten inhaftiert, und da die beiden 4-Bettzellen überfüllt waren, waren in der Nacht des Grauens in einer Zelle 10 und in der anderen 7 Kinder eingepfercht.
Aber das war nichts im Vergleich zu dem, was geschehen sollte

Den Nachmittag über hatte einer der Jungen, der 16 jährige Diego verzweifelt verlangt seine Eltern besuchen zu dürfen: Er hatte von diesen einen Brief bekommen in dem stand, sein kleiner Bruder sei schwer krank. Unverständlicherweise hatte irgendjemand innerhalb der Polizeistation den Text –vor seiner Übergabe an Diego- dahingehend verändert, dass nun zu lesen war, sein kleiner Bruder sei gestorben.
Diego, der in der 10-Zelle inhaftiert war, begann sich wie wild zu gebärden, so dass er mehrmals von den wachhabenden Polizisten mit dem Gummistock geschlagen wurde. Schließlich entstand ein allgemeiner Aufruhr und die Polizisten kamen in die Zelle und schlugen erbarmungslos auf alle 10 Jungen ein, die weiterhin laut um Hilfe riefen in der Hoffnung, durch das einzige Fenster, das zur Strasse führt, von Menschen gehört zu werden. Der Aufruhr entflammte auch in der anderen Zelle, so dass auch die anderen 7 Jugendlichen rücksichtslos von der Polize geschlagen wurde.
Als alles nichts half, zündeten die Jungens ein Teil eines Schaumgummikissens an, in der Hoffnung, die Fußgänger würden den entstandenen Rauch sehen und die Polizei würde die Zelle öffnen müssen.

Was hingegen geschah ist unvorstellbar: Allen Anzeichen und Untersuchungen nach schüttete jemand von außerhalb Benzin oder Kerosin unter die Blechtüre der 10.Zeller, so dass sich das Feuer in dem Raum, in dem 10 Menschen zusammengepfercht waren, explosionsartig ausbreitete. 4 der Jungen starben in den nächsten Stunden, nachdem sie noch einmal –trotz schwerster Brandwunden- zusammengeknüppelt wurden. Manche von ihnen wurden stundenlang in Streifenwagen herumgefahren, bis sie –alle 10 weit zerstreut voneinander, damit ihre Angehörigen sich nicht treffen und gemeinsam etwas unternehmen konnten- in Hospitäler eingewiesen wurden.


Ich hab Diego und seine Familie gut gekannt, so dass die Mutter mich bat die Trauerfeier und Beerdigung zu leiten. Ich hab´deshalb Diego aus nächster Nähe lange gesehen: Sein Sarg wurde wieder –wie der von Carlitos- mitten in einem Gang des Elendsviertels „Villa Itatí“ aufgebahrt, da auch die Hütte der Familie Maldonado viel zu klein für einen Sarg plus Trauergemeinde war. Ich kann bezeugen, dass die Kinder nicht vom Rauch des Schaumstoffkissens erstickt sondern verbrannt sind. Diegos Gesicht und Hände waren noch im Tod leuchtend rot, ohne jegliche Hautreste, denn die waren alle verbrannt; Diego hatte auch nicht den geringsten Russfleck an den Händen oder im Gesicht: Die –um Jahre verspätete Untersuchung- stellte fest, dass alle 4 Jungen den inneren Brandwunden der Atemwege erlegen sind und keiner Rauchvergiftung, wie es die ersten Befunde der eigenen Polizei bekannt gegeben haben.
Nach 5 Jahren warten die Angehörigen immer noch auf die Gerechtigkeit der Menschen: Bisher wurde kein einziger Polizist wegen dieser 4 Morde verurteilt.

Ich werde nie die letzte Szene vergessen, die ich an Diegos Grab erlebt habe.
Als alle Menschen gegangen waren, blieb ich auf einige Entfernung stehen und schaute zurück.
Da sah ich, dass Diegos Schwester vor dem Grab kniete. Ich ging zu ihr zurück um sie zu umarmen, als ich bemerkte, dass sie eine kleine Zigarette, aus Zeitungspapier und Hasch gedreht, entzündete und in die Erde des frischen Grabhügels steckte. Sie sagte: „Vielleicht hilft es ihm, ein wenig Ruhe zu finden“.

Was wir von der Ökumenischen Menschenrechtsbewegung meinen:

Schon vor vielen Jahren, im April 1988 haben wir folgendes bekannt gegeben:
“Wir vom MEDH sehen mit größter Sorge den Vormarsch von Kriterien einer angeblichen „Sicherheit“, die weder die sozialen Interessen verteidigen und noch viel weniger die Nöte der Minderjährigen, sondern die einzig und beharrlich das Weiterbestehen einer repressiven Mentalität beweisen, die zur Genüge bewiesen hat, dass sie absolut schädlich für alle Menschen ist, nur nicht für diejenigen, die sie ausüben und sich dadurch bereichern. Man muss deshalb das gesamte Sozial- und Rechtssystem, insofern es mit Kindern und Jugendlichen zu tun hat, von Grund auf verändern. Wir werden nie dadurch eine größere „Sicherheit“ erreichen, dass wir eine noch stärkere und ausgeweitete Repression der Kinder errichten, mit stärkeren Gittern und größeren Vorhängeschlössern: ¿Wie sollten wir auch unsere armen Jugendlichen davor schützen, gegen das Gesetz zu handeln, während die Folterer und Mörder der Diktatur frei und straflos unter uns umherstolzieren? Wir sehen mit Entsetzen, dass es viele Richter gibt, die unsere Kinder dem „Gewahrsam“ jener professioneller kriminellen Schergen der Diktatur übergeben wollen, die weiter ihr Unwesen treiben“.

Arturo Blatezky
Mai 2009