Mittwoch, 9. Juni 2010

Ein Donnerstag in Capital

"Geht es da nach Peru?", fragt mich Francisco, ein 13-jaehriger Junge aus meinem Projekt. Er deutet mit dem Finger auf eine U-Bahnstation, die "Peru" heisst. "Was fuer ein Ort ist denn das?" Ich verstecke mein Entsetzen und erklaere ihm, wo Peru liegt und dass man dahin leider nicht mit der U-Bahn fahren kann. Es ist Donnerstagnachmittag. Ein besonderer Donnerstagnachmittag, denn wir befinden uns nicht wie normalerweise im Jugendzentrum in Bosques Norte, sondern mitten in Capital, kurz vor der Plaza de Mayo. Ich erklaere Francisco, dass die Plaza de Mayo der wichtigste Platz und die Casa Rosada das wohl wichtigste Gebaeude, naemlich der Praesidentensitz, von Buenos Aires ist, seiner Stadt. "Nein", sagt er, seine Stadt sei Bosques Norte, sein Barrio eben. Es ist das erste Mal, dass er in Capital ist. Das Zentrum von Buenos Aires liegt etwa 1,5 Stunden mit dem Linienbus von Bosques entfernt.

Der Grund, warum wir an einem Donnerstag mit den Kindern herkommen ist der, dass jeden Donnerstag um 15 Uhr die Madres bzw. Abuelas der waehrend der Militaerdiktatur Verschwundenen ueber die Plaza laufen, mit Gedenktafeln und Spruchbaendern, um nicht vergessen zu machen, dass ihre Kinder bzw. Enkelkinder einfach verschwunden sind und dass sie teilweise immer noch ihre Enkelkinder suchen, die den Inhaftierten abgenommen wurden und von anderen adoptiert wurden. Viele dieser inzwischen Erwachsenen wissen nicht um ihre Vergangenheit, um ihre Identitaet. Die Chefin des argentinischen Medienmonopols Clarin steht im Moment oeffentlich unter Druck, da auch sie Kinder von "Desaparecidos" adoptiert hat und somit mit den Militaers kooperiert hat. Diese Affaere ist eine politisch zur Zeit hoechst brisante Angelegenheit!

Waehrend die Madres ihre Runden drehen, in ihren weissen Kopftuechern - ihr Zeichen! verliest eine weitere von ihnen ueber ein Mikro die Namen der verschwundenen Kinder der Anwesenden - 33.000 Namen kann sie schliesslich nicht vorlesen - und nach jedem Namen sagt die Menge laut: "Presente" (Anwesend). In den Koepfen ihrer Angehoerigen sind diese Menschen nicht vergessen. Damit auch der Rest der argentinischen Bevoelkerung nicht vergisst, was mit ihnen geschehen ist, protestieren die Madres jede Woche. Abschliessend liest die alte Frau noch zwei Gedichte von Verschwundenen vor, die an eine andere Welt glauben, ohne Hass und Verfolgung. Es ist sehr feierlich und bewegend, diesen Moment mitzuerleben, auch wenn man persoenlich nicht betroffen ist.

Ein historischer Moment also, nicht nur fuer Francisco, so ein Donnerstag in Capital.

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