Dienstag, 29. Juni 2010

Begegnungen verschiedener Art

Der letzte Sonntag war für mich ein Tag voller Begegnungen der verschiedensten Art.
Nachdem wir mit einer großen Gruppe von Freiwilligen die beiden Spiele Deutschland - England und Argentinien – Mexiko geguckt hatten, waren Lisa, Laura und ich wieder auf dem Heimweg. Als wir an Retiro, dem großen Bahnhof von Buenos Aires, mit dem Bus ankamen um von dort die einstündige Busfahrt nach Varela anzutreten, merkte ich, dass ich die Tüte mit den Kleidungsstücken, die ich zuvor gekauft hatte, im Bus liegen gelassen hatte.
Ich lief also zu einem Bus der selben Linie und ließ mir die Nummer der Busgesellschaft geben. Der Mann am Telefon riet mir, auf meinen Bus an Retiro zu warten. Da ich die Fahrkarte noch hatte, konnte ich die Busnummer ablesen und musste nun eben auf genau diesen Wagen warten. Es dauerte zwei Stunden, bis er wieder kam, da er eine Stunde nach Flores braucht und dann wieder eine Stunde zurück. Ich sprang auf den Wagen und fragte den Fahrer nach meiner Tüte. Ja, er hatte sie gefunden – wie toll! – aber an der Kontrolle in Flores abgelegt. Das bedeutete also nach den zwei Stunden des Wartens eine Stunde nach Flores zu fahren, die Tüte im Büro abzuholen, eine Stunde zurück nach Retiro zu fahren, und dann noch eine Stunde nach Hause. Trotzdem war ich dankbar und froh, denn ich war davon ausgegangen, dass jemand die Tüte mitgenommen hatte.
Schließlich stand ich um 11 Uhr abends wieder an der Bushaltestelle an Retiro, einer der gefährlichsten Orte in Buenos Aires. Da die Villa (Armenviertel) direkt hinter den vier großen Bahnhöfen liegt, kommen die Kinder und Jugendliche von dort zu den Bushaltestellen, um zu betteln oder auch zu klauen. Häufig stehen sie unter Drogen, was das Ganze nach verschlimmert. Man kennt den Anblick der vielen Menschen, die am Bahnhof unter ein paar dreckigen Decken schlafen, und doch erschreckt es einen in gewissen Situationen aufs Neue und gerade nach 9 Uhr abends, wenn nicht mehr viele Leute in Schlangen auf Busse warten, ist es ein Ort, an dem man nicht alleine sein möchte.

In den letzten Wochen habe ich dort zwei Situationen erlebt, die mich erschreckt haben. Einmal lief ich um etwa 4 Uhr nachmittags auf das Fahrkartenhäuschen zu, den Blick auf mein Portmonnaie geheftet, und als ich den Blick hob, stand ein Mädchen in meinem Alter mit erhobenem Messer vor mir. Ich zuckte vor Schreck heftig zusammen und drehte abrupt um, woraufhin sie zu Lachen anfing und mir nachlief in die Schlange der Boleteria. „Ay Flaca, Boluda“ (Beleidigungen), schrie sie und lachte die ganze Zeit weiter. Sie war sicher nicht nüchtern und ich war total durcheinander und immer noch etwas unter Schock.
In der Schlange für den Bus angekommen, hörte sie nicht auf, mich anzuschreien, so dass ein junger Mann weiter vorne in der Schlange, also weiter weg von ihr, mich zu ihm und mich aus ihrem Blickfeld holte. Dafür war ich ihm sehr dankbar.

Ein paar Wochen später war ich wieder nachmittags dort und lief über den kleinen Platz mit roter Asche auf die Boleteria zu, als mir drei Männer entgegen kamen. Eigentlich gilt die Regel, nicht über solche Plätze laufen zu dürfen, sondern immer außen herum auf dem Bürgersteig. Das mache ich auch normalerweise immer, dieses eine Mal dachte ich, dass es ungefährlich sei, so lange es noch hell ist. Für diese Naivität wurde ich dann auch prompt bestraft. Die drei Männer, die verdreckt waren und nach Alkohol stanken, kreisten mich ein und fragten nach Monedas (Geldmünzen). Da ich dafür meine Geldbörse hätte rausholen müssen und gerade Geld gezogen hatte, sagte ich nein, ich hätte keine. „Klar hast du Geld“, sagten sie und wurden lauter. „Ich brauche sie zum Busfahren“, sagte ich und meine Stimme klang fast schon flehend. Sie hörten nicht auf, zu fordern und kamen mir immer näher, so dass ich flüchtete. Ich drehte mich um und rannte so schnell ich konnte auf den Bürgersteig, woher ich kam, der nur ein paar Meter entfernt lag. Es war alles voller Menschen, aber niemand rief etwas oder kam mir irgendwie anders zu Hilfe, obwohl es viele gesehen hatten.
Sie folgten mir nur kurz, dann ließen sie von mir ab. Ich musste aber trotzdem wieder in diese Richtung, weil ich ja nach Hause fahren musste. So lief ich zügigen Schrittes auf der Straße zur Boleteria, dann zur Schlange, meine Beine zitterten. Der Mann vor mir in der Schlange sagte mir, dass er gesehen habe, dass die Typen mich ganz schön bedrängt hätten. „Toll“, dachte ich, „warum hat er dann nichts gemacht, nicht gerufen, nichts gesagt?“.
Als endlich der Bus kam, war ich erleichtert, aber die ganze Busfahrt immer noch aufgewühlt.
Dabei war ja überhaupt nichts passiert. Mir wurde nichts weggenommen, ich wurde nicht verletzt. Trotzdem ist diese Angst, die ich in solchen Momenten verspüre, ein schlimmes Gefühl. Und auch das Gefühl, das ich an solchen Orten habe, ohne, dass etwas passiert, ist unangenehm. Dieses Gefühl der Unsicherheit.
Das Ganze ist ja komplex. Man kann diese Menschen, die dort betteln und klauen und bedrohen nicht einfach als „die Bösen“ abstempeln, sondern sie haben ihre Geschichte und ihre Lebensumstände, die dazu führen, dass sie nichts mehr zu verlieren haben.
Wenn du nichts hast, hast du auch nichts zu verlieren.

Als ich schließlich am Sonntag im Bus saß und der Bus nur etwa 10 Meter um die Ecke fuhr, sah ich vom Busfenster aus 3 Jugendlichen mit Decken um die Schultern herumlaufen, einer von ihnen hatte ein etwa 50 cm – großes Messer in der Hand. Es war wirklich riesig und es durchfuhr mich, obwohl ich sicher im Bus saß. Gerade noch hatte ich ein paar Meter davon entfernt auf den Bus gewartet.
Da ich mein Handy zu Hause vergessen hatte und meine Mitbewohnerin Laura informieren wollte, dass es mir gut ging, fragte ich im Bus einen gut gekleideten Mann mittleren Alters, der zuvor mit seinem Handy telefoniert hatte, ob ich sein Handy vielleicht für einen Anruf benutzen dürfe, da ich meins vergessen hätte und meiner Freundin sagen wollte, wo ich war. Er schaute mich nur ganz komisch an, lachte und sagte „No“, nichts weiter. Ich war wie vor den Kopf gestoßen und fragte noch einmal, weil ich dachte, er würde vielleicht einen Witz machen. Er wiederholte nur das „No“, kein anderes Wort fügte er hinzu, und ich setzte mich wieder auf meinen Platz. Solch eine Behandlung bin ich hier nicht gewohnt, normalerweise sind die meisten Menschen sehr hilfsbereit und zuvorkommend.
Es machte mich traurig, dass gegenseitige Hilfe nicht selbstverständlich ist, und dass es Menschen gibt, die andere so von oben herab behandeln.
Ingesamt habe ich an diesem Abend eine ganze Palette verschiedener Emotionen durchlebt: von positiver Überraschung, über Nervösität, Unruhe, Schock zu Demütigung und Enttäuschung.

1 Kommentar:

  1. hallo laura,
    ich bin ein argentinier der in münchen studiert und bin zufälligerweise auf dein blog gelandet dank dem "argentinischen castellano" schrift. ich finde es toll, weil ich interessiere mich gern auf wie aüsländer argentinien empfinden, vor allem wegen der krassen unterschiede die du da finden kannst und die kulturelle mischung, el crisol del culturas.

    saludos

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